Ist das Bildungsniveau der Lehrlinge in den letzten 20 Jahren schlechter geworden? Welche Angebote sollte man als Unternehmen seinen Lehrlingen machen und welche Fehler sollte man dabei unbedingt vermeiden? Diese und weitere Fragen beantworten Experten in diesem Artikel.
Lehrlinge sind heute zwar sicherlich besser im Umgang mit Computern und der digitalen Welt als ihre Vorgänger vor 20 Jahren, aber sonst hört man von Unternehmen – gerade im Wiener Raum – in letzter Zeit nicht viel Gutes über ihre (Schul-)Bildung. Wir haben dazu 3 Experten befragt: Mario Filoxenidis (Geschäftsführer von eucusa), Günther Mathé (Geschäftsführer bei careercenter) und Katharina Sigl (Leiterin des Geschäftsfelds Didactic bei Festo Österreich).
Man hört und liest immer wieder, dass sich das Bildungsniveau der Lehrlinge mit Pflichtschulabschluss verschlechtert habe, heute also weniger gut sei als vor z. B. 10 oder 20 Jahren. Deckt sich das mit Ihrer Wahrnehmung?
Katharina Sigl: »Das stimmt leider – Kunden berichten darüber und auch aus den HTLs hören wir davon. Es gibt zum Teil gravierende Probleme mit dem sinnerfassenden Lesen, der Rechtschreibung aber vor allem mit den Basiskenntnissen in Mathematik, die die Grundlage für technisch-naturwissenschaftliche Fächer bilden.«
Günther Mathé sieht das ganz ähnlich: »Schaut man sich Studien an, müsste man diese Frage eindeutig mit Ja beantworten, da die Anzahl der Pflichtschulabsolventen, die nicht einmal sinnerfassend lesen können, leider tendenziell steigt, und Lesen ist die Basis für jede Art der Weiterbildung und Weiterentwicklung. Wir bekommen immer wieder Rückmeldungen von Firmen, die sich darüber beklagen, dass potenzielle Lehrlinge Bildungslücken haben, die sie für die Lehrstelle fast unbrauchbar machen. Das erklärt auch, warum in Österreich Tausende Lehrstellen unbesetzt sind.«
Können Sie ein Stadt/Land-Gefälle erkennen, was das Bildungsniveau der Lehrlinge betrifft?
Günther Mathé: »Ja, das ist klar erkennbar. Am Land hat die Lehrlingsausbildung einen höheren Stellenwert als in der Stadt. In der Stadt ist die Lehre bei einigen das Auffanglager für die Jugendlichen, die die Motivation und Leistung für eine höhere Schulausbildung nicht bringen können oder wollen. Durch die Anonymität in der Stadt ist es für die jungen Leute auch viel aufwändiger, einen guten Lehrplatz zu bekommen. Am Land kennt man sich untereinander und es ist für die Unternehmen leichter, sich für einen Auszubildenden zu entscheiden, wenn die Familie bzw. die Eltern bekannt sind bzw. wenn man sich über den zukünftigen Lehrling erkundigen kann. Umgekehrt kennen viele Jugendliche die Betriebe, die Lehrstellen anbieten, schon als Kind oder von diversen Schulexkursionen. Das Handwerk bzw. die Möglichkeiten und die Notwendigkeit von gut ausgebildeten Fachkräften werden von der ländlichen Bevölkerung einfach mehr geschätzt.«
Katharina Sigl ergänzt: »Was wir jedenfalls in der Praxis deutlich merken, ist, dass die Lehre in West-Österreich einen höheren Stellenwert hat und deutlich öfter als alternativer Bildungs- und Berufsweg gesehen wird. Entsprechend engagiert zeigen sich daher so manche Vorzeigeunternehmen, zum Beispiel aus Tirol oder Vorarlberg, die sich proaktiv für eine moderne Lehre einsetzen. In Ostösterreich spürt man leider oft noch die ›Bildungsstandesdünkel‹ des vergangenen Jahrhunderts – das ist nicht gerade ein Turbo in Sachen ›Karriere mit Lehre‹. Obwohl wir den wirklich brauchen könnten! Denn top ausgebildete Facharbeiter werden in vielen Bereichen dringend gesucht.«
Was sind generell die Herausforderungen im Umgang mit Lehrlingen?
Mario Filoxenidis: »Aus unserem Lehrlings-Spiegel wissen wir, dass Lehrlinge sich vor allem wünschen, dass ihre Ideen und Vorschläge ernst genommen werden. Sie fühlen sich als vollwertige Mitarbeiter und stellen somit auch ihre Forderungen. Gerade gegen Ende der Lehrzeit werden sie oft kritischer, ihre Erwartungshaltung steigt. Somit ist das Thema Mitarbeiterbindung gegen Ende der Lehrzeit eine wesentliche Herausforderung. Das bedeutet, Perspektiven für die Zukunft zu geben und frühzeitig Instrumente der Personalentwicklung einzusetzen. Beim Kampf um die besten Talente wird es also auch darum gehen, Lehrlinge nicht nur als ›billige Arbeitskräfte‹ mit sofortigem praktischen Einsatz zu ›verwenden‹, sondern für ein gutes Mitarbeiterpotenzial des Unternehmens rechtzeitig vorzusorgen und personelle Ressourcen strategisch für die Zukunft zu schaffen. Es ist aber sicherlich nach Branche, Unternehmen oder Region unterschiedlich herausfordernd, hier zu agieren.
Vergessen sollte man aber auch nicht die Lehrlingsausbilder! Sie stehen oft vor der Herausforderung, ohne oder nur mit geringen Budgetmitteln Maßnahmen setzen zu müssen. Sie gehören ebenfalls gefördert, sei es im Budgetbereich, aber auch durch Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, sowohl im fachlichen als auch persönlichen Bereich. Dazu gehören beispielsweise auch interkulturelle Kompetenzen, denn die Belegschaft in manchen Branchen hat oft einen sehr vielfältigen kulturellen Hintergrund. Hier braucht man das richtige Fingerspitzengefühl, Wissen und Wertschätzung, um damit umgehen zu können.
Das Selbstverständnis der Generation der Lehrlinge in der digitalen Welt und die alltägliche Nutzung scheinen anders zu sein als bei früheren Generationen. Das führt auch dazu, dass die Konzentrationsfähigkeit auf eine einzelne Tätigkeit teilweise nachgelassen hat. Hier muss es Überlegungen geben, diese Entwicklung bei der Ausbildung mit zu berücksichtigen, wie beispielsweise E-Learning und Gamification.«
Katharina Sigl: »Grundvoraussetzung ist es, die Basiskenntnisse der Lehrlinge auf ein gemeinsames Ausgangsniveau zu bringen. Dann gilt es, Talente zu erkennen und zu fördern. Ebenso wichtig ist es, arbeitsnahes Lernen in der Aus- und Weiterbildung zu ermöglichen – eine moderne, praxisnahe Ausstattung in der Berufsschule ist dafür ein absolutes ›Must‹. Und von ganz besonderer Bedeutung: Der Stellenwert der Lehre muss österreichweit erhöht werden. Das verlangt nach einer attraktiven Lehre mit entsprechenden Karrierechancen. ›Karriere mit Lehre‹ muss vom ersten Tag an gelebt werden!
Günther Mathé: »Lehrlinge brauchen klare Regeln und Rahmenbedingungen für die berufliche Ausbildung und ihre Tätigkeit, die im Vorfeld mit den Jugendlichen besprochen und verbindlich vereinbart werden. Viele Jugendliche genießen im Privatleben enorme Freiheiten, die sie oft auch überfordern. Hier raten wir den Unternehmen, während der Ausbildung konkret gegenzusteuern, um den Jugendlichen mehr Sicherheit zu geben.
Die Arbeitgeber müssen sich viel einfallen lassen, um ihre Lehrlinge zu motivieren. Die Zeiten, in denen die Lehrlinge ihren Lehrherren bedingungslos Gehorsam leisten und nichts hinterfragen, sind vorbei. Interessante Aufgaben, die die Lehrlinge auch in einer gewissen Selbstständigkeit bearbeiten können, motivieren die Auszubildenden genauso wie spannende Aufgaben und Projekte, die von den Unternehmen eigens für ihre Lehrlinge kreiert werden. Bei den handwerklichen Berufen werden die Grundkenntnisse nur durch viel Üben und Wiederholen gefestigt, dafür muss ausreichend Zeit sein.
Immer wieder stellen Betriebe während der Lehrzeit fest, dass es den Lehrlingen an Sprachkenntnissen und sozialer Kompetenz fehlt. Schuldzuweisungen an Elternhaus oder Pflichtschulausbildung sind hier fehl am Platz. Die Unternehmen müssen sich schnell eine Lösung einfallen lassen, wie sie mittels Coaching, Workshops und Seminaren dem Lehrling auch diese Kenntnisse bestmöglich vermitteln können.«
Was sind die wichtigsten Angebote, die ein Unternehmen seinen Lehrlingen machen sollte?
Katharina Sigl: »An erster Stelle steht ein ernstgemeinter, nachhaltiger Support der Lehrlinge. Dafür braucht es engagierte Ausbilder und gut geschulte Coaches. Weitere wichtige Ansatzpunkte betreffen die Möglichkeit des arbeitsnahen Lernens mit entsprechendem Equipment und das eigenverantwortliche Agieren. Viele Lehrlinge wollen über sich hinauswachsen und das möchten sie unter Beweis stellen. Die Berufsmeisterschaften sind ein gutes Beispiel dafür. Es ist immer wieder toll zu sehen, mit welchem Einsatz die Lehrlinge dabei sind und natürlich auch ihre ausbildenden Unternehmen, die sie unterstützen.«
Mario Filoxenidis nimmt auch die Lehrlinge in die Pflicht: »In unserem Lehrlings-Spiegel hat sich die große Bedeutung eines funktionierenden Teams herausgestellt. Arbeitsklima, faire Behandlung durch Führungskraft und Ausbilder, Hilfsbereitschaft durch Kollegen und offenes, rasches, ehrliches, wertschätzendes und häufiges Feedback tragen maßgeblich zum ›Wohlfühlen‹ am Arbeitsplatz bei. Aber auch die Work-Life-Balance und damit verbunden verlässliche Arbeitszeiten sind ein wichtiges Thema.
Generell bin ich der Ansicht, dass man Lehrlinge zwar fördern, aber auch etwas von ihnen fordern muss. Eine Firma ist kein Selbstbedienungsladen, auch die Lehrlinge haben Verantwortung für das Gelingen der beruflichen Partnerschaft. Und ich denke, sie wollen auch zeigen, zu welchen Leistungen sie fähig sind. Daher geht es aus meiner Sicht nicht nur um das Arbeits- und Ausbildungsangebot des Unternehmens an seine Lehrlinge, sondern um ein wertschätzendes Einfordern von Spitzenleistung, das dem jeweiligen Talent des Lehrlings entspricht.«
Günther Mathé erklärt, wie man Lehrlinge motivieren könnte: »Spannende Angebote sind Anreize für gute Noten in der Berufsschule. Mit mehreren erreichbaren Stufen und einem großzügigen Benefit legen sich die Lehrlinge gerne ins Zeug, um sich die Prämien zu holen. Sehr häufig wird Geld angeboten, außergewöhnliche Adventureausflüge oder Incentivegutscheine, ein neues Smartphone, Festivalkarten oder zusätzliche Urlaubstage. Um den Lehrlingen auch den weiteren Verbleib in der Firma schmackhaft zu machen, ist es wichtig, ihnen rechtzeitig die Weiterbildungsprogramme vorzustellen. Sehr viele Unternehmen haben eine eigene Lehrlingsakademie, die für die Persönlichkeitsentwicklung und Social Skills verantwortlich ist. In der Wirtschaft spricht man dabei vom trialen Ausbildungssystem. Darunter versteht man ca. eine Drittelung der Lehrzeit: ein Teil der Zeit im Betrieb, ein Teil der Lehrzeit in der Berufsschule und ein Teil der Lehrzeit in einer überbetrieblichen Einrichtung (wie z. B. Trainingsanbieter von Lehrlingsseminaren). Diese Investitionen in die Persönlichkeitsentwicklung werden immer wichtiger für die Jugendlichen, um die Herausforderungen im beruflichen und privaten Leben meistern zu können. In manchen Firmen gibt es z. B. auch Prämien für Nichtraucher, was die Lehrlinge besonders betrifft. Jugendliche in diesem Alter sind hier besonders gefährdet. Betriebliche Gesundheitsvorsorge wird mittlerweile nicht nur für ältere Arbeitnehmer attraktiv gestaltet, sondern auch für die Lehrlinge. Flexible Arbeitszeitmodelle werden besonders bei älteren Lehrlingseinsteigern geschätzt.«
Welche Angebote werden von Lehrlingen am besten angenommen?
Günther Mathé: »Belohnungen für gute Noten sind sehr beliebt. Genauso gern wird die Teilnahme an einer Lehrlingsakademie als dritte Ausbildungssäule angenommen. Kompetenzen wie Umgangsformen, Team- und Konfliktfähigkeit, Selbstverantwortung, Kommunikationsfähigkeit, authentisches Auftreten und Sprachgewandtheit sind Social Skills, die die Lehrlinge im Rahmen dieser Lehrlingsakademien dankbar annehmen. Was im ländlichen Bereich durch die fehlenden öffentlichen Verkehrsinfrastruktur oft wichtig ist und gerne angenommen wird, sind firmeninterne Sammelbusse.«
Katharina Sigl: »Mehrwert ist gefragt. Als Beispiel kann die Lehre mit Matura genannt werden, die, wenn das Unternehmen das unterstützt, schon während der Lehrausbildung begonnen werden kann. Prämien sind für Lehrlinge natürlich besonders interessant. Immer öfter stehen dabei nicht-berufliche Themen im Fokus, wie etwa eine Nichtraucher- oder eine Fahrradprämie. Aber auch Zuschüsse zum Fitnesscenter oder Ähnliches kommen sehr gut an.
Was sind Ihrer Beobachtung nach die größten Fehler, die Unternehmen im Umgang mit Lehrlingen machen?
Mario Filoxenidis: »Respektvoller Umgang von beiden Seiten ist notwendig. Sowohl von Führungskräften und Lehrlings-Ausbildern, als auch von den Lehrlingen selbst. Außerdem ist es sicherlich ein großer Fehler, wenn Lehrlinge nicht genügend Wissen über die Hintergründe von Entscheidungen vermittelt bekommen. Oder wenn die von ihnen eingebrachten Ideen nicht genügend ernst genommen oder respektiert werden. Sie fühlen sich dann nicht als vollwertige Mitarbeiter behandelt, haben aber sehr wohl den Anspruch, gehört zu werden. Wertvolles Feedback von beiden Seiten im richtigen Maß zur richtigen Zeit ist wesentlicher Erfolgsfaktor für eine gelungene Lehrzeit.«
Katharina Sigl: »Der größte Fehler, den man machen kann, ist eine mangelnde Betreuung der Lehrlinge. Wer gute Lehrlinge haben möchte, muss sich gut um sie kümmern. Man sollte auch unbedingt verinnerlichen, dass Lehrlinge nicht als billige Arbeitskräfte für unbeliebte Tätigkeiten gesehen werden. Sie sind vielmehr eine Chance für die Zukunft des Unternehmens. Es stimmt längst nicht mehr, dass Lehrlinge immer das Unternehmen verlassen, wenn die Lehre abgeschlossen ist. Sind der Arbeitgeber, das Betriebsklima und die Karriereaussichten attraktiv, stehen die Chancen gut, dass aus dem ehemaligen Lehrling die geschätzte Fachkraft von morgen wird.«
Günther Mathé: »Es gibt nach wie vor Unternehmen, die einen Lehrling als billige Arbeitskraft sehen und dementsprechend behandeln. Eine Lehre ist eine Ausbildung. Der Betrieb ist in der Verantwortung, dem Lehrling das Wissen und die Fertigkeiten anzueignen, die in dem jeweiligen Lehrjahr vorgesehen sind. Die Ausbildung zum Lehrlingsausbilder ist für alle Lehrlingsbetriebe verpflichtend, dadurch wird zumindest versucht, dass sich die Lehrlingsausbilder mit Lehrplänen, Lehrzielen und Methodik und Didaktik auseinandersetzen.
Immer wieder gibt es Förderungen für Betriebe für das erste Lehrjahr oder sogar für die gesamte Lehrzeit. Das zieht leider manche Firmen an, die die Lehrlinge zu Hilfskräften ausbilden und die weder Zeit noch Ressourcen für eine ordnungsgemäße Lehrausbildung haben.«
Fazit
Der richtige Umgang mit Lehrlingen ist nicht schwer: Respekt, klare Regeln, sie nicht als billige Hilfskräfte missbrauchen, ein offenes Ohr für ihre Anliegen haben, sie fördern und fordern, Karrierechancen ermöglichen und auch kommunizieren. Sollten sie Bildungs-Defizite haben, dann sollte man sich die Zeit nehmen, diese auszugleichen. Das bringt unmittelbar sicher mehr, als sich auf die Suche nach den Schuldigen zu begeben. Und so steht dann der beiderseitigen Zufriedenheit nichts mehr im Wege.