Es bleibt kein Stein auf dem anderen

Die Digitalisierung ist voll im Gange. Viele Experten sind davon überzeugt, dass wir erst ganz am Anfang dieser Entwicklung stehen.

Sie rechnen damit, dass in den nächsten 5 bis 7 Jahren gravierende Änderungen in fast allen Branchen und Bereichen um sich greifen werden. Das gilt natürlich ebenso für einzelne Unternehmensbereiche, und somit auch für HR.
Was das für die HR-Branche bedeuten wird, haben wir Jürgen Smid, Geschäftsführer von ­karriere.at und Beatrice Pacher, Unternehmensberaterin und Trainerin am WIFI gefragt.

Welche zukünftigen Veränderungen erwarten Sie im Personalwesen durch die Digitalisierung?

Jürgen Smid: »Die Digitalisierung wird auch vor den HR-Abteilungen nicht Halt machen – ganz im Gegenteil: Das Personalwesen ist bereits jetzt mit Herausforderungen digitaler Transformation konfrontiert. Technologien werden im Recruiting zunehmend eine große Rolle spielen: durch Matching-Tools und Bewerbermanagementsysteme beispielsweise. HR-Verantwortliche werden verstärkt als Human Relations Manager tätig werden müssen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und dem Unternehmen selbst, aber auch zwischen Teams und Kontaktpunkten außerhalb des Unternehmens. Lebenslanges Lernen wird weiterhin an Bedeutung gewinnen. Weiterbildung wird immer öfter direkt am Arbeitsplatz, während des Daily Business, geschehen.«
Beatrice Pacher: »Der digitale Wandel ist sehr facettenreich, das betrifft auch den HR-Bereich. Ich sehe 3 unterschiedliche Aspekte, die bei der Veränderung des Personalwesens zu betrachten sind:
Die digitale Transformation der eigenen, operativen Prozesse von HR, also der administrativen und strategischen Abwicklung des HR-Geschäfts.
Der Bereich Personalentwicklung – also der Faktor Mensch. Welche Antworten auf die Digitalisierung von Wertschöpfungs-Prozessen hat HR in Bezug auf Mitarbeiter-Qualifikation und Lernen im Unternehmen? Ob die Digitalisierung in dieser Geschwindigkeit Platz greift, wird auch davon abhängen, wie die Menschen hier mitgenommen werden. Alleine die digitale Machbarkeit scheint mir nur eine Seite der Medaille zu sein.
In dem Maße, wie der Arbeitsort an Bedeutung verliert, gewinnen Fragen um Arbeitszeitmodelle und entsprechend arbeitsrechtliche Themen an Bedeutung. Stichwort: Arbeiten an der ›elektronischen Leine‹ auf Grund von Möglichkeiten des Echtzeit-Trackings aller Aktivitäten der Mitarbeiter.«

Welche HR-Bereiche bzw. HR-Funktionen werden besonders betroffen sein?

Beatrice Pacher: »Die digitale Veränderung stellt das Personalwesen auf den Kopf, denn nichts wird mehr so sein, wie wir es gewohnt waren zu denken. Die klassische HR-Funktion, wie wir sie heute kennen, wird es mittelfristig so wohl nicht mehr geben. An ihre Stelle werden dezentral fungierende Experten treten, die als interdisziplinäre Einheiten agieren. Deren Aufgabe ist es, dafür zu sorgen die technologische und soziale Arbeitswelt zu verknüpfen.«

Von welchem Zeithorizont ist dabei auszugehen?

Jürgen Smid: »Die digitale Transformation hat bereits begonnen. Arbeitgeber sollten Trends im Auge behalten: Was geschieht in anderen Ländern? Was tut sich bei den Vorreitern im Silicon Valley? Welche neuen Start-ups entwickeln Ideen zu Themen, die HR betreffen werden? Man muss natürlich nicht alles, was passiert und entwickelt wird, gut finden – Zukunftsforschung sollte aber jedenfalls auf der HR-Agenda stehen.«
Beatrice Pacher: »Gegenwärtig laufen Personalabteilungen Gefahr, die Überfuhr zu versäumen. Vor allem der Bereich Weiterbildung & Qualifizierung wird zunehmend in die operativen Wertschöpfungs-Ebenen verlagert. Ein Neudenken von HR wird es in den nächsten 2 bis 3 Jahren geben.«

Welche Veränderungen durch Digitalisierung haben im Personalwesen bereits stattgefunden?

Jürgen Smid: »Change-Management und der Umgang mit Veränderungen sind sicher Themen, die bereits jetzt im Fokus von HR-Arbeit stehen. Ein Beispiel: Die Flexibilisierung von Arbeitszeiten und auch -orten ist längst keine Zukunftsmusik mehr. Neue Technologien prägen schon jetzt die Art und Weise, wie gemeinsam gearbeitet und kommuniziert wird. Das hat auch Auswirkungen auf die gesamte Organisation: Wie setzen sich Teams zusammen? Wie läuft ein Projekt ab? Wer trifft Entscheidungen? Wer ist wann und wie erreichbar? Das Personalwesen spielt hier bereits eine große Rolle, wenn es um die Entwicklung digitaler Kompetenzen geht – für Arbeitnehmer und Führungskräfte gleichermaßen.«
Beatrice Pacher: »Am weitesten fortgeschritten aus meiner Sicht ist der Bereich Mitarbeitersuche über digitale Medien bzw. das Thema Talentmanagement. Dazu gibt es gute HR-Software, die mittlerweile auch umfangreiche Enterprise-Lösungen anbietet. Zum Teil gibt es auch interessante Onboarding-Konzepte, z. B. von John Deer (einem Landmaschinenerzeuger) über ein Virtual-Reality-Konzept.«

Ihrer Einschätzung nach: Bereitet sich die österreichische HR-Branche auf die anstehenden Veränderungen ausreichend vor?

Jürgen Smid: »Studien zufolge stehen viele Arbeitgeber der Digitalisierung noch verhalten gegenüber. Kein Wunder – mit einem Softwareupdate ist es noch nicht getan, möchte man mit der digitalen Transformation Schritt halten. Ich denke, die österreichische HR-Branche ist der Digitalisierung gegenüber generell aufgeschlossen, es fehlt aber oft an Strategien und Konzepten – und manchmal auch noch an Mut, die Dinge anzupacken.«
Beatrice Pacher: »Die HR-Branche hat den Ruf mittlerweile zwar teilweise erhört, ich stelle jedoch immer wieder fest, dass beispielsweise die methodische und digitale Kompetenz der Personalisten selbst häufig noch wenig ausgeprägt ist. Daher braucht es gerade dort massive Qualifizierungsmaßnahmen. Es gilt hier auch, den eigenen Weiterbildungsbedarf zu beleuchten. Das betrifft aber nicht nur HR-Bereiche in Österreich.«

Was können Personalverantwortliche ganz konkret tun, um die Chancen der Digitalisierung zu erkennen und zu nutzen? Wie kommen sie zu den dafür nötigen Informationen?

Beatrice Pacher: »Unabdingbare Voraussetzung ist die Bereitschaft zur grundlegenden Veränderung und die Entwicklung einer neuen Haltung zur HR-Arbeit insgesamt. Weg vom Reflex der ausschließlichen Adaption der gewohnten Silo-Struktur, hin zur interdisziplinären Ausrichtung an den gegenwärtigen Digitalisierungstreibern IT, Innovations- & Entwicklungsbereiche, aber auch Marketing. Wenn es gelingt, die eigenen Kernprozesse zu automatisieren, kann Kapazität für die notwendigen, neuen Rollen frei werden. Hier gilt es auch, eigene Rollen zu definieren und neu zu erfinden – z. B. Lernagent, Contenthersteller, Enterprise-Moderator, um nur einige beispielhaft zu nennen.«
Jürgen Smid: »Aufgeschlossenheit, Prozesse aktiv zu hinterfragen und die Bereitschaft, neue Technologien einzusetzen – das sind zwei mögliche erste Schritte. Dafür benötigt HR natürlich das Commitment der Geschäftsführung. Die Notwendigkeit, in der HR-Rolle als strategischer Partner wahrgenommen zu werden, ist in Zukunft essenziell. Konkrete Handlungsfelder für Personalverantwortliche könnten sein: der Einsatz neuer Technologien, z. B. für Recruiting oder Mitarbeiterentwicklung, die Analyse zukünftig benötigter Kompetenzen und die Entwicklung von Strategien, wie diese Kompetenzen von Arbeitnehmern erworben werden können. Sehr hilfreich ist für die Informationsbeschaffung sicher der Austausch mit HR-Kollegen und wie gesagt: Trends im Auge behalten, auch wenn sie bei uns noch nicht angekommen sind.«

Um die Chancen der Digitalisierung wahrzunehmen, braucht es für ein Unternehmen vor allem zwei Dinge: eine digitale Infrastruktur und die Qualifikation, diese zu nutzen. Was kann bzw. muss HR tun, um die nötigen Qualifikationen der Mitarbeiter sicherzustellen?

Jürgen Smid: »Erster Schritt ist sicher die Evaluierung des Status quo: Was haben wir und was können wir bereits? Aber auch: Wo hapert es noch? Dabei sollte man nicht vergessen, auch die Arbeitnehmer mit ins Boot zu holen. Sie sind diejenigen, die mit der bestehenden Infrastruktur arbeiten und wissen, welche Faktoren die tägliche Arbeit erleichtern oder erschweren und welches Wissen benötigt wird. Ausgehend von dieser Bestandsaufnahme kann in die Zukunft geblickt werden. HR behält den Überblick über das große Ganze, erarbeitet Strategien für den Kompetenzerwerb, plant Qualifikationsmaßnahmen und evaluiert laufend.«
Beatrice Pacher: »HR muss sich um die Rahmenbedingungen und die Beziehungen in einem selbst organisierten, kollaborativen Umfeld kümmern. Der Weiterbildungsbedarf an Digitalkompetenz ist ein zentrales Thema. Während Wissen sich immer schneller vermehrt, sinkt die Kompetenz. Die traditionelle Antwort mit Trainings muss durch Social-Learning-Projekte, eigener Content-Entwicklung sowie innovativen Lernräumen im Unternehmen ersetzt werden.«

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