Die zweifache Gedächtnismeisterin Luise Maria Sommer hat kürzlich ihr neues Buch veröffentlicht. Darin gibt sie den Lesern kreative Merktipps für den digitalen Alltag.
Was hat Sie dazu bewogen, neben Ihrer Tätigkeit als Lehrerin auch als Speaker zu arbeiten?
Der Startschuss für mein zweites Standbein als Impulsvortragende zum Thema »Faszination Gedächtnis« fiel 2002, unmittelbar nach meinem Guinness-Weltrekord in der ARD »Guinness Show der Rekorde«. Nach der Ausstrahlung riefen Unternehmen bei mir an und wollten diese Techniken von mir lernen. Ich bekam und bekomme Einladungen von Firmen aus allen »Walks of life«, die mich für firmeninterne Mitarbeiterworkshops buchen genauso wie für Keynotes bei großen Kunden-Events oder Galaveranstaltungen. Und wenn ich dort Hunderte von Menschen mit meiner Begeisterung für mein »Faszinationsgebiet« Gedächtnis anstecken und ihnen vielleicht genau den entscheidenden Impuls mitgeben kann, der sie persönlich weiterbringt – das ist einfach nur beglückend.
Warum hat Sie das Thema so gepackt?
Ich war von klein auf als »vergessliche Luise« bekannt, die beim Einkaufen für die Mama auf mindestens drei Sachen vergaß oder auch später an der Uni immer wieder Kugelschreiber, Regenschirme, Skripten etc. liegen ließ. Deshalb – und als dann auch noch zwei Fälle von Demenz in meiner Familie vorkamen – hat mich dieses Thema wohl magisch angezogen. 1993 lernte ich in einem Vortrag die Mnemotechnik der antiken griechischen Redner kennen, mit denen diese sich ihre stundenlangen Reden merkten. Ich probierte diese Technik gleich am nächsten Tag mit einem kleinen Gedächtnisexperiment aus – und es war um mich geschehen. Ich war fasziniert!
Schaffen Sie es wirklich, in einem 1-stündigen Vortrag sofort anzuwendende Tipps zu transportieren?
Meine USP als Gedächtnisexpertin ist meine Erfahrung als Gedächtnissportlerin. Es gibt bei mir immer eine Live-Gedächtnisperformance zum Auftakt. Das können zum Beispiel 10 Zahlenreihen à 20 Ziffern sein, die mir das Publikum spontan »zuwirft«, oder 30 zufällige Wörter. Und ich werde dann »geprüft«, was das Wort Nr. 17 oder 25 war, oder wie die 5. Zahlenreihe lautet (gern auch rückwärts). Damit habe ich mein Publikum an meinem »Angelhaken« – sie wollen wissen, wie das geht! Und dieses Etwas-wissen-Wollen ist bekanntlich die wichtigste Voraussetzung für erfolgreiches Lernen. Ich zeige ihnen dann, wie ich es mache, ich lasse sie hinter meine Kulissen blicken. Und das Ganze verläuft natürlich interaktiv! Wir probieren die Methoden gemeinsam aus, und als Memoriermaterial nehmen wir Fakten aus dem Allgemeinwissen. Da kann es schon mal vorkommen, dass wir dann mit den deutschen Bundespräsidenten seit 1949 – oder einem Einkaufszettel – am Körper nach Hause gehen. Und die 7 größten EU-Staaten, fein säuberlich nach ihren Flächen geordnet und in einer merk-würdigen(!) Merkgeschichte verpackt – all das können die Teilnehmer mühelos auch am nächsten Tag noch einem verblüfften Nicht-Eingeweihten weitergeben.
Meine Zuhörer sollen nach meinem Vortrag ebenso fasziniert über ihre eigene Gedächtnisleistung sein, wie sie es zu Beginn vielleicht von meiner waren.
Sie haben kürzlich ein neues Buch veröffentlicht, was war Ihre Motivation dahinter?
2007 wurde das Smartphone – in seiner gängigen Form – erstmals präsentiert. Mit seiner Einführung und Verbreitung hat sich auch die Art und Weise, wie wir uns Dinge (nicht mehr) merken, entscheidend verändert. Wir befinden uns mitten in einem spannenden Lernprozess, was unseren Umgang damit betrifft. Vordergründig geht es also in meinem neuen Buch um Merktipps für den digitalen Alltag, in dem wir immer mehr Gedächtnisfunktionen an Google, Smartphone & Co auslagern. Doch es öffneten sich für mich viele weitere Fenster: Wie wirkt sich eine innere Haltung der Dankbarkeit auf unser Gedächtnis aus? Wie können wir mit der Wahl unserer Worte unsere Merkleistung beeinflussen? Oder unser Gehirn in unserem schnelllebigen Alltag zwischendurch immer wieder auch »leeren«?
Aber müssen wir uns überhaupt noch etwas merken heutzutage? Google weiß doch alles!
Das ist genau die Einstellung, vor der ich warnen möchte, denn jede Fähigkeit, die wir nicht mehr nützen, verkümmert früher oder später. Die »Ars memorativa« oder Gedächtniskunst war im Mittelalter hoch angesehen – eigens geschulte Lehrpersonen zogen damals von Universität zu Universität, wurden weiterempfohlen. Ein bisschen erinnert mich das an meine eigene Speaker-Tätigkeit. Ich möchte interessierten Menschen zeigen und Lust darauf machen, wie wir uns (wieder) mehr merken können. Und – seien wir ehrlich: Ist es nicht ein bisschen beeindruckend, wenn man die aktuellen neuen Ministernamen unserer Regierung oder unsere österreichischen oder deutschen Bundespräsidenten seit dem 2. Weltkrieg gleich parat hat, ohne »Dr. Google« fragen zu müssen? Oder sofort die (noch) neun EU-Länder aufzählen kann, bei denen wir unsere Euros noch in deren Landeswährung umwechseln müssen? In meinem Buch lade ich die Leser in ein »geistiges Fitness-Studio« ein, wo wir – lustvoll – mit Wissen dieser Art unser Gedächtnis trainieren und gleichzeitig wieder ein Stückchen unabhängiger von Google, Smartphone & Co werden können. Wer weiß – vielleicht wird ja bald ein »smart BRAIN« um vieles beeindruckender sein als jedes noch so hippe und coole Smartphone.
Wie verändert der Digitalisierungstrend unser Gehirn?
Dazu gibt es bereits viele Studien, über die ich in meinem Buch auch berichte. Die für mich verblüffendste erschien im Juni letzten Jahres, durchgeführt von der University of Texas: In einem Experiment nahmen Versuchspersonen an einer Reihe von Tests teil, die die Fähigkeit des Gehirns, Daten zu behalten, messen sollten. Vor dem Beginn der Tests wurden die Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip angewiesen, ihre Smartphones entweder auf dem Schreibtisch mit dem Bildschirm nach unten gerichtet oder in einem anderen Raum zu platzieren. Die Forscher fanden heraus, dass die Teilnehmer, die ihre Handys in einem anderen Raum platzierten, diejenigen mit ihren Handys direkt auf dem Schreibtisch deutlich übertrafen. Warum? Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die bloße Anwesenheit des eigenen Smartphones die verfügbare kognitive Fähigkeit verringert. Die Forscher nennen diesen unbewussten Prozess »Hirnabfluss« oder »brain drain«.
Ganz ehrlich: Schreiben Sie sich Erinnerungszettel oder Einkaufslisten?
Wo immer möglich, versuche ich zu leben, was ich predige. Ich benutze einfach meinen Alltag als »Fitness-Studio« für meinen Geist. Wenn mir eine Telefonnummer angesagt wird, während ich im Auto unterwegs bin, geht ja Aufschreiben nicht. Da ist das Memorieren derselben eine willkommene Trainingseinheit. Oder, wenn ich neue Menschen kennenlerne: Da nehme ich bewusst ihre Namen wahr und merke sie mir einfach. Und möglichst oft, wenn interessante Fakten meinen Weg kreuzen, sage ich mir anschließend: »Das merk’ ich mir!«, und bastle mir schnell mit meinen »Gedächtnis-Werkzeugen« eine Memo-Brücke, die mir dabei hilft. So schlage ich drei Fliegen auf einem Schlag: Ich erleichtere mir meinen Alltag, vergrößere mein »Wissensnetz« – und bringe Farbe in meine grauen Zellen. Und selbstverständlich schreibe ich mir zwischendurch auch einmal schnell eine Einkaufsliste. Das Problem ist nur: Meistens lasse ich sie dann zu Hause liegen.