Dies ist eine besondere Geschichte. Sie ist so wahr wie absurd und erzählt, wie ein einzelner Satz einer griechischen Studentin im London des Jahres 1988 30 Jahre später zum Brexit-Chaos geführt hat. Ohne diesen Satz kein Brexit. Die reiche Studentin sagte: »I want to live like common people.« Die Millionärstochter wollte also wie die einfachen Menschen leben, wie das gemeine Volk.
Sowohl ihr eigener Name – Danae Stratou – als auch der Name des Mannes, an den sie diesen Satz richtete – Jarvis Cocker –, sind im deutschen Sprachraum größtenteils unbekannt. Jarvis Cocker war in den 1960er- und 1970er-Jahren in Sheffield als Sohn eines Musikers im Arbeiterviertel aufgewachsen, wusste also viel über »einfache Menschen«. Und so stieß ihm dieser Satz sauer auf. Er trug ihn einige Jahre mit sich herum, bis er schließlich ein Lied daraus formte. Was wie ein absurd-witziges Liebesabenteuer beginnt, endet als wütende Abrechnung des gemeinen Volkes und wurde in England in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre zur Hymne der einfachen Menschen: Common People.
Es folgt ein Sprung in Zeit und Ort. Griechenland, November 2011. Nachdem die EU als Folge der Staatsschuldenkrise Griechenland einen rigorosen Sparkurs aufgezwungen und man sich nach langen Verhandlungen auf ein Maßnahmen- und Hilfspaket geeinigt hatte, wollte der griechische Premierminister Papandreou das Volk über die geplanten Einschnitte abstimmen lassen. Aus Sicht der Deutschen und der Franzosen war das ein Skandal. Das Volk abstimmen lassen, das war die schlimmste Idee überhaupt! Enorme Drohkulissen wurden aufgebaut, Griechenland wurde mit der sofortigen Pleite gedroht, das Referendum abgeblasen, Papandreou musste zurücktreten. Das war eine dunkle Stunde der Demokratie in Europa: Eine Volksbefragung musste unbedingt verhindert werden. Die Deutschen hatten einen sehr guten Grund dafür: Die Gelder des Hilfspakets sollten nämlich nicht an »die Griechen« fließen, sondern vor allem an deutsche Banken. Das sagte zumindest Yanis Varoufakis, zunächst Berater von Papandreou, dann einer seiner schärfsten Kritiker und einige Jahre später griechischer Finanzminister. Die deutschsprachigen Medien waren gleichgeschaltet in ihrer Unterstützung der deutschen Politik.
Für die Briten stand weit weniger auf dem Spiel: Sie waren nicht Mitglied der Euro-Zone, englische Banken waren weit weniger involviert. Die britischen Medien berichteten daher ganz anders, man wunderte sich über das Demokratieverständnis der Euro-Zone. Vor allem das britische Volk merkte sich, wie mit dem griechischen Volk umgegangen wurde. Und dieses britische Volk hatte seine eigene, nach ihm benannte Hymne: Common People.
Völlig ungewollt war Danae Stratou der Grund für dieses Lied. Als Tochter des größten Textilindustriellen Griechenlands war sie als Sozialtouristin vom Leben der einfachen Leute fasziniert. 25 Jahre später kämpfte Yanis Varoufakis gegen den Sozialabbau und für diese einfachen Leute. Das Besondere daran: Die beiden sind miteinander verheiratet!
Auf Betreiben Varoufakis’ kam es dann 2015 doch noch zu einem Referendum, in dem sich das griechische Volk mit 61 % gegen neue Vorschläge der Eurogruppe aussprach. In der Gruppe der Euro-Zonen-Finanzminister war er danach unerwünscht und trat zurück. In England wurde das genau beobachtet, besonders genau vom einfachen Volk, the common people.
Yanis Varoufakis studierte in den 1980er-Jahren in England. Aus dieser Zeit sind berüchtigte Duelle im Debattierclub der Essex University mit John Bercow überliefert, also jenem Mann, der heute als Parlamentspräsident das Brexit-Chaos zu bändigen versucht (»Order!«).
Dass das Brexit-Referendum überhaupt abgehalten wurde und wie es ausgegangen ist, hat natürlich viel mit der Stimmung des gemeinen Volkes zu tun. Und daher mit Griechenland und mit dem Lied »Common People«. Und daher mit der Millionärin Danae Stratou und ihrem zufälligen Zusammentreffen mit Jarvis Cocker aus dem Arbeiterviertel Sheffields. Und daher mit Yanis Varoufakis. Dieser rief übrigens das britische Volk dazu auf, für den Verbleib in der EU zu stimmen. Und das alles passt irgendwie überhaupt nicht zusammen. Und doch – auf seltsame Weise tut es das sehr wohl.