Verborgene Talente entdecken

Die Corona-Krise hat die Anwendungsfälle und die ­Auswertungsmodalitäten psychologischer Testverfahren verändert. Welche neuen Chancen sich dadurch ergeben und worauf bei der Auswertung besonders zu achten ist, erfahren Sie in diesem Artikel.

Psychologische Testverfahren werden sowohl für das Recruiting neuer Mitarbeiter eingesetzt als auch für interne Versetzungen. Hier stellen sie ein tolles und aussagekräftiges Instrument dar, um über die Stärken und das Entwicklungspotenzial von Mitarbeitern besser Bescheid zu wissen. Potenzialanalysen ganz unterschiedlicher Art sind äußerst wertvoll und es lohnt, sich Zeit für eine darauf basierende umfangreiche Reflexion zu nehmen. Natürlich ist es auch für Mitarbeiter und Bewerber immer wieder spannend, sich mit anderen zu messen. Worum geht es im Endeffekt? Um die passende Person zur richtigen Zeit an die beste für sie geeignete Position im Unternehmen zu setzen.

Durch die Corona-Krise hat sich auch das Recruiting geändert. Weniger selbstredend und wenn, dann digital, so könnte man die letzte Zeit im Bereich Recruiting beschreiben. Das Angebot am Arbeitsmarkt hat sich durch die hohe Arbeitslosenzahl natürlich erhöht. TRAiNiNG wollte von Experten wissen, welche Auswirkungen die Krise auf die Anwendung von psychologischen Testverfahren hat.
Eine wesentliche Veränderung ist beispielsweise, dass die Auswertung einer Persönlichkeitsanalyse nicht mehr Face-to-Face stattfinden konnte.
Jessica Folkes (Geschäftsführerin Kick Off Management Consulting GmbH): »Dies ist zwar zeitlich effizient, doch entstehen durch die Video-Auswertungsgespräche andere Schwierigkeiten. Der fehlende persönliche Kontakt ist nicht jedermanns Sache, da muss ein Coach schon gut geschult sein im behutsamen Rapportaufbau, in der Ferndeutung von Mimik und Gestik und im Fingerspitzengefühl – denn Persönlichkeitsauswertung heißt auch das Besprechen von schwierigen Themen. Zu beachten ist derzeit weiters, dass ein Fragebogen zur Persönlichkeitsauswertung zurzeit zumindest im leichten Distress beantwortet wird. Je nach persönlichen Umständen sogar in mittelgradigem bis hochgradigem Distress. Dies muss bei der Auswertung berücksichtigt werden – kann aber auch zu einem guten Coaching führen, bei dem im Auswertungsgespräch durchaus hilfreiche Unterstützungsmaßnahmen erarbeitet werden können. Überhaupt muss beim Einsatz von Persönlichkeitsauswertungen in dieser Zeit überlegt werden, inwieweit die Bereitschaft des Kandidaten gegeben ist. Unterschiedliche Persönlichkeiten reagieren differenziert: Der eine zeigt große Bereitschaft (›das hilft mir gerade jetzt weiter‹); der andere möchte sich lieber dem Tagesgeschäft widmen. Das beeinflusst stark, ob das angebotene Feedback auch angenommen und verarbeitet werden kann.«

Bernhard Dworak (Geschäftsführer Master Human Resources Consulting GmbH): »Wir haben schnell festgestellt, dass viele Unternehmen weniger Tests erstellt und verschickt haben. Und jetzt sehen wir auch einen Rückgang der Anzahl der Antworten. Im Vergleich zum Nutzungsmuster des letzten Jahres scheint es sich jedoch stabilisiert zu haben. Wir messen nicht, wofür unsere Tests verwendet werden und können daher nichts über eine Änderung der Testverwendung sagen. Wir gehen aber davon aus, dass sich die Anwendung an sich grundsätzlich nicht verändert. Was sich jedoch sehr wohl verändert hat, ist der Prozess. War es ›früher‹ für viele Unternehmen undenkbar, Feedbackgespräche via Video zu führen, hat diese Art der Kommunikation sich schnell etabliert.«

In der Krise ist vielen Unternehmen klar geworden, dass es hilfreich ist, wirklich darüber Bescheid zu wissen, welche Kompetenzen ihre Mitarbeiter haben. Denn es war eben nicht »business als usual«, sondern eine Extremsituation für alle Beteiligten. Hier kamen durchaus neue Stärken von Mitarbeitern hervor, die vorher nicht zu bemerken waren. Diese erkannt zu haben, ist eine gute Überlebensstrategie für Unternehmen.

Claudia Prock (zertifizierte Innoviduum Partnerin): »Tests werden vermehrt auf das Erkennen der individuellen Stärken und Werte abzielen müssen, lautet eine erste vorsichtige Prognose. Wer hätte z. B. gedacht, dass eine Sekretärin auf einmal didaktisch hochwertige Visualisierungen für Online-Meetings erstellt, weil sie neben ihrem organisatorischen Geschick auch noch gerne zeichnet und ein Gespür dafür hat, wie Prozesse grafisch dargestellt werden können?
Der Fokus der Anwendung psychologischer Tests könnte sich in Zukunft verändern. ›Testen war gestern! Reflektieren ist heute!‹ Erkenntnisse der Positiven Psychologie finden Einzug in neue Testverfahren, die zudem noch um die Aspekte der Resilienz im Sinne von Widerstandskraft und der mentalen Stärke erweitert werden.«

Einige Menschen haben die beruflich »ruhige« Kurzarbeit dazu genutzt, um sich persönlich weiterzubilden und dabei auch verstärkt das Internet genutzt. Einige Trainer haben diesen Trend genutzt und ihr Angebot entsprechend ausgebaut.

Günther Mathé (Geschäftsführer careercenter): »In dieser Zeit sind Potenzialanalysen eine tolle Ergänzung, damit man auf Distanz etwas Lernen und sich weiter entwickeln kann. Wir haben unseren Kunden die Potenzialanalysen in Kombination mit Coachinggesprächen als Ersatz von Präsenztrainings angeboten. Von einigen wurde das gut angenommen.«

Veränderte Nachfrage

Die Krise hat die HR-Arbeit innerhalb weniger Tage auf den Kopf gestellt. Plötzlich war alles anders. Die »normalen« Probleme sind in den Hintergrund gerückt und es ging erst einmal darum, organisatorisch das Unternehmen auf die Reihe zu bekommen. Manche Themen wie Personalentwicklung waren nicht mehr so wichtig bzw. haben sich stark verändert. Auch das Recruiting hatte, mit einigen Ausnahmen, an Priorität verloren, da kaum neue Mitarbeiter gesucht wurden. Wie hat sich all das auf die Nachfrage nach Persönlichkeitstests ausgewirkt?

Günther Mathé über die Anwendung von Tests zur Persönlichkeitsentwicklung: »Potenzialanalysen sind schon seit Langem ein wichtiges Tool in der Personalentwicklung. Durch die Umstellung auf Online-Trainings sind psychologische Tests in Zukunft noch begehrter, da wir diese Ergebnisse expliziter in die Online-Trainings miteinfließen lassen können. Wichtig dabei ist, dass die Fähigkeiten und die Talente eines Menschen zur jeweiligen Aufgabenstellung passen. Wir unterstützen unsere Kunden dabei, dass sie sich in ihrem Aufgabenbereich wohl fühlen. Im Video-Kontakt mit Menschen ist es hilfreich, anhand der Potenzialanalyse zu wissen, mit welchem Typ man es zu tun hat. Wir sind daher überzeugt, dass Potenzialanalysen jetzt noch einmal einen Aufschwung erleben werden.«

Jessica Folkes erkennt eine geringe Nachfrage im Recruiting und eine wachsende Nachfrage für die Personalentwicklung: »Zurzeit findet weniger Recruiting statt, d. h. hier gibt es naturgemäß weniger Nachfrage nach Potenzialanalysen. Zukunftsorientierte Unternehmen bauen allerdings gerade jetzt sehr stark auf Potenzialanalysen, um einerseits ihre Mitarbeiter in schwierigen Zeiten zu unterstützen; andererseits um den Zusammenhalt im Team zu stärken. In jedem Fall sind Potenzialanalysen zurzeit mehr gefragt als klassisches Training – jede Maßnahme, die im Einzelsetting und per Video stattfinden kann, wird jetzt gerne genutzt.«

In vielen Unternehmen sind Mitarbeiter bereit, freiwillig für ein paar Monate auf einen Teil ihres Gehaltes zu verzichten, um den Fortbestand des Unternehmens zu sichern. Neue, unkonventionelle Lösungen sind gefordert. Hierzu ist es natürlich sehr hilfreich zu wissen, welches vielleicht noch unerkannte Potenzial der Mitarbeiter hat und wofür Unternehmen ihn noch einsetzen können.

Claudia Prock: »Innovative Konzepte sprießen angesichts der Krise und einbrechender herkömmlicher Geschäftsfelder aus dem Boden. ›Masken statt Mode‹, ›Essen ausliefern statt bedienen‹ oder ›Erntehelfer statt Bürohengst‹?
Und das alles innerhalb kürzester Zeit. Einer Zeit, in der pragmatische Lösungen gefordert waren. Diese Lösungen werden in den nächsten Wochen bis Monaten Professionalisierung erfahren und dazu braucht es Mitarbeiter, die das dafür notwendige Potenzial haben. Dies zu erkennen, bedarf u. a. auch Potenzialanalysen, die derzeit bzw. in naher Zukunft in den Branchen, die sich massiv ändern, gefragter sind als sonst. Potenzialanalysen, die der Individualität der Menschen gerecht werden und idealerweise neben der Eigensicht auch eine Fremdsicht beinhalten.«

Potenzialanalyse statt Bewerbungsgespräch?

Schon seit Jahren gibt es die Vision, dass das Recruiting vollautomatisch abläuft. Kandidaten setzen sich einfach vor einen Computer, beantworten ein paar Fragen und das Programm liefert klare Antworten darüber, ob der Kandidat der am besten geeignete für die zu besetzende Stelle ist. Dafür gibt es schon eigene Recruiting-Roboter, die sowohl die fachliche als auch die soziale Eignung testen. Doch wie realistisch ist es, dass psychologische Testverfahren den Recruitingprozess vollkommen ablösen?

Claudia Prock: »Analysen können die Wirksamkeit von Recruiting-Maßnahmen erhöhen bzw. sie effizienter machen. Zum Beispiel könnte durch gute Tests schon im Vorfeld erhoben werden, welche Kompetenzen und Werte im bestehenden Team vorhanden sind. Ein Abgleich mit den Aufgaben zeigt, wie ein neues Teammitglied sein bzw. was es können sollte. Analysen der Bewerber – vor allem, wenn es sich um eine Kombination von Eigen- und Fremdsicht handelt – geben außerdem einen wichtigen Aufschluss über den möglichen Passungsgrad zwischen der neu einzustellenden Person und dem Job oder auch dem Team. Damit können Maßnahmen wie beispielsweise Assessment-Center ersetzt oder zumindest verkürzt werden.«
Bernhard Dworak: »Ich glaube, dass es in Zukunft einen erhöhten Fokus auf den Aufbau einer Talent-Pipeline in den größeren Unternehmen geben wird. Jetzt können Unternehmen nicht mehr an Konferenzen oder Universitätsausstellungen teilnehmen, bei denen sie sich normalerweise präsentieren und nach Talenten suchen. Eine Möglichkeit, dies zu beheben besteht darin, mehr Kandidaten zu testen und so eine Pipeline aufzubauen. Ich gehe auch davon aus, dass in Zukunft mehr Kandidaten für die Rekrutierung verfügbar sein werden. Dies bedeutet, dass Unternehmen über automatisierte Auswahlprozesse und Instrumente verfügen müssen, um größere Pools von Kandidaten zu durchsuchen. Persönlichkeits- bzw. Potenzialanalysen sind ein großartiges Werkzeug dafür. Ein erfahrener Recruiter ist jedoch noch immer die Voraussetzung für eine gute Entscheidung – aber mit personaldiagnostischen Instrumenten fällt es einfacher, die passenden Mitarbeiter für die Zukunft zu finden –, und es ist wesentlich kosteneffizienter als andere Methoden – von der Qualität und Nachhaltigkeit ganz zu schweigen.«

Eignung für Home-Office

Die meisten Mitarbeiter, die nicht in der unmittelbaren Produktion sind, waren in den letzten Monaten im Home-Office und haben damit unterschiedliche Erfahrungen gesammelt. Von zu Hause aus zu arbeiten, erfordert mehr Disziplin und Eigenverantwortung. Können Persönlichkeitstests herausfinden, ob Menschen eher für Home-Office geeignet sind oder nicht?

Günther Mathé: »Menschenorientierte Typen vermissen im Home-Office mit Sicherheit den direkten Kontakt zu Kunden und Kollegen. Aufgabenorientierte Typen tun sich hier leichter.  Durch eine Potenzialanalyse lassen sich die relevanten Eigenschaften gut herauslesen. Besitzt jemand nicht die optimalen Eigenschaften, ist es wichtig, dass man ihn so gut wie möglich in seiner Arbeit unterstützt.«

Jessica Folkes: »Um solche Fragen zu beantworten, ziehen wir bevorzugt das Process Communication Model (PCM) heran, um zu evaluieren, wie ein Mensch grundsätzlich veranlagt ist – z.B. eher introvertiert oder extravertiert; wie viel Direktive wird benötigt oder eben nicht. Auch die Talent- und Motivationsanalyse (TMA) gibt Aufschluss über z. B. die Soziabilität eines Menschen oder auch das Bedürfnis nach Unterstützung. Oder auch durch den Wingfinder, der z. B. misst, inwieweit ein Kandidat selbstgesteuert agieren kann.«

Bernhard Dworak: »Ich denke, es wäre relevanter, darüber zu sprechen, wie Führungskräfte Analysen verwenden können, um zu sehen, wie sie Menschen unterstützen und motivieren können, die von zu Hause aus arbeiten. Man darf auch nicht vergessen, dass Home-Office, wie wir es jetzt erleben, nicht dem ›normalen‹ Home-Office entspricht. Ich verstehe unter dem Begriff Home-Office das Arbeiten von zu Hause an einigen Tagen im Monat oder der Woche – aber niemals ausschließliches Arbeiten von zu Hause, wie wir es derzeit erleben.«

Fazit
Potenzialanalysen bieten einen tollen Blick hinter die Fassade von Menschen. Sowohl im Recruiting als auch in der Personalentwicklung stellen sie eine kostengünstige Ergänzung dar, um valide Aussagen über eine Person zu treffen. In Krisenzeiten muss der eventuelle Stress des Teilnehmers berücksichtigt werden. Video-Auswertungsgespräche bieten eine Gelegenheit, sicher sowie zeit- und ortsunabhängig zu coachen. Das erfordert allerdings auch einiges an Übung.

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