Menschen unterliegen häufig unbewussten Vorurteilen. Das TU Career Center hat in einer Pilotveranstaltung neue Wege ausprobiert, um dies aufzuzeigen.
Unter dem Motto »Chancengleichheit schaffen« veranstaltete das TU Career Center Anfang Oktober ein Recruiting-Event der anderen Art.
Objektivität im Auswahlprozess zu fördern, stand im Vordergrund. Der »Unconscious Bias« (= unbewusster Diskriminierungsprozess) soll so weit wie möglich ausgehebelt und Entscheidungen nur anhand fachlicher Kompetenzen getroffen werden. In der Praxis werden häufig Kandidaten aufgrund ihres Namens, der Herkunft, der Religion und besonders Kandidatinnen wegen ihres Geschlechts schlechter bewertet und in weiterer Folge abgelehnt. So entsteht kein heterogenes Team, wobei die Vielfalt im Unternehmen für den Erfolg nachweisbar hoch relevant wäre. Bekanntlich entstehen Innovationen vor allem dann, wenn unterschiedliche Herangehensweisen, Erfahrungen und Persönlichkeiten zusammenarbeiten.
Unter dem Begriff »Unconscious Bias« werden Phänomene zusammengefasst, die aufgrund der Struktur unseres Gehirns bei Begegnungen mit Menschen auftreten. Dabei haben wir die Eigenschaft, andere Menschen binnen Sekunden einzuschätzen und in bestimmte Schubladen einzuordnen. Oft lassen wir uns dabei von einzelnen Details blenden und wir übersehen hoch qualifizierte Talente.
Der erste Eindruck entsteht nicht nur schnell, sondern auch zum großen Teil unbewusst. Wir trauen großen Menschen mehr Kompetenz zu, haben bei bestimmten Namen Assoziationen zur sozialen Herkunft; all das kann mitunter negative Auswirkungen in Bewerbungsprozessen haben.
Um dem entgegenzuwirken, gab und gibt es immer wieder neue Ansätze, die sich nur sehr langsam etablieren. Beispiele sind anonymisierte Lebensläufe, in denen Fotos, Name, Geschlecht oder Alter geschwärzt werden, bevor Personalisten aktiv werden.
Das innovative Team des TU Career Centers hat nun eine Veranstaltung für Studierende und Unternehmen ins Leben gerufen. »Voice of Diversity« ist der Titel des neuen Events.
Michaela Unger: »Mit ›Voice of Diversity‹ entwickeln wir eine Möglichkeit zur anonymen Abwicklung und Bewertung von Recruiting-Gesprächen. Wir freuen uns über die Kooperation mit dem Centre for Informatics & Society (TU Wien), das uns mit der sozio-technologischen Lösung und der wissenschaftlichen Begleitung dieses Projekt erst ermöglicht hat. Mit dem DEBIAS Chat (Digitally Eliminating Bias in Application Selection) sind den Experten, die an der Fakultät für Informatik forschen, ein IT-Support-Tool und ein Pilotprojekt gelungen, welche die Mechanismen von Unconscious Biases in einem Recruiting-Prozess minimieren können. Somit wird Chancengleichheit erhöht.«
Ist uns eine Person ähnlich, ist sie uns meist gleich sympathisch. Das ist ein Bias, der häufig passiert, wenn gleiche Interessen vorherrschen. Das steigert die Sympathie und manche Menschen bekommen eher eine Stelle als andere. Das ist in der Recruiting-Praxis gang und gäbe.
Natürlich führt das zu Problemen, besonders wenn man sich eben doch nicht gleich ist. »Wir haben viele Studierende, die tolle Kompetenzen haben, die aber schwer einen Job bekommen. Für genau dieses Problem haben wir eine Lösung gesucht. So sind wir auf die Idee für diese Veranstaltung gekommen«, erzählt die Geschäftsführerin des TU Career Centers.
Der Ablauf
Im Festsaal der TU Wien treffen Studierende auf Unternehmen. Mit Vertretern der BOC GROUP und WIEN ENERGIE finden die Gespräche vor Ort im Festsaal statt (wegen Corona in Übersetzerkabinen mit Trennwand, siehe Foto rechts).
TAKEDA, TTTech, ERSTE GROUP und POST stehen im virtuellen Raum via JITSi bereit. 36 Studierende finden innovative Unternehmen, denen Diversität am Herzen liegt.
Bevor die Studierenden, die sich für unterschiedliche Positionen in den Unternehmen interessieren, mit den Unternehmensvertretungen sprechen, passiert vieles: Die teilnehmenden Unternehmen werden befragt und beide Parteien vorbereitet. Die Studierenden bekommen bereits am Vortag sechs unternehmensspezifische Fragen schriftlich zugeschickt, in denen sowohl fachliche als auch persönliche Fakten kurz abgefragt werden – ohne private Details zur Person.
Im 2. Schritt gibt es den DEBIAS Chat, in dem Unternehmensvertretungen – meist HR und Fachbereichsleitungen – auf die Antworten der Studierenden eingehen und nachfragen. Dabei haben sie pro Frage 5 Minuten Zeit und bewerten im Anschluss direkt die Antworten der Person anhand einer Punkteskala. Die Bewertung kann später nicht mehr rückgängig gemacht werden.
Florian Cech (Centre for Informatics and Society): »Drei Aspekte waren in diesem Kontext für uns von besonderer Bedeutung. Das Prinzip der Anonymisierung ist notwendige Grundvoraussetzung. Bias wie Geschlecht, Alter und Aussehen, aber auch Sekundärmerkmale wie ethnische Herkunft und Migrationshintergrund, die sich teilweise aus dem Namen ablesen lassen, sind besonders häufig. Die Unternehmen haben daher im Vorfeld keinerlei Lebenslauf oder sonstige Daten der Studierenden erhalten. Eine vordefinierte, klare Struktur des Gespräches hat sich in wissenschaftlichen Experimenten als besonders wirkungsvoll erwiesen. Das DEBIAS Tool gibt daher vor, die Fragen für alle gleich zu gestalten und diese in derselben Reihenfolge erfolgen zu lassen. Dies erlaubt auch eine bessere und vergleichende Bewertung der Personen. Die Fragen werden im Vorhinein von den Unternehmen zusätzlich relativ gewichtet, um auch der Tatsache gerecht zu werden, dass in einem Interview manchen Fragen eine höhere Relevanz zukommt.«
Unmittelbar nach dem 30-minütigen schriftlichen, anonymen Chat (ohne Ton und Bild) geht es in ein 15-minütiges persönliches (oder virtuelles Live-)Gespräch. Der Vorhang fällt für beide Seiten. Im virtuellen Raum wird das Fenster zum Videochat geöffnet. Hier beginnt die Selbstreflexion und gegebenenfalls die Erkenntnis. Auch dieses Gespräch wird sofort im Anschluss von den Unternehmen standardisiert bewertet und den Kandidaten entsprechende Punkte zugeordnet.
Harald Koch (Fachbereichsleiter Wien Energie) erzählt nach einem Live-Gespräch: »Es ist interessant, welches Bild uns durch den Chat im Kopf entsteht und wer uns dann tatsächlich gegenüber sitzt. Wir haben uns hier mehrfach getäuscht, besonders beim Geschlecht.«
Im Anschluss geht es um die Bewertung und die Evaluation. Michaela Unger: »Alle Daten und Interviews aus dem Projekt werden vom Team um Florian Cech wissenschaftlich ausgewertet. Die Fragestellung, die im Fokus steht, ist nun, wie sich ›Unconscious Biases‹ in Recruitingprozessen tatsächlich auswirken und welche Techniken der Gegensteuerung vor dem nun entstehenden Kenntnisstand für die Zukunft denk- und machbar erscheinen. Wir planen eine Wiederholung dieser Veranstaltung im Mai nächsten Jahres.«
Sabine Leisentritt (Personalmanagement bei Wien Energie) fasst ihre Erfahrungen des Tages zusammen: »Durch das Event ist uns vieles bewusst geworden und wir möchten in Zukunft unser Recruiting neu denken, um mögliche Verzerrungen so weit wie möglich auszuschließen.«
Es ist schön zu sehen, dass sich manche Menschen dieses Themas so professionell annehmen. Der TU Wien ist ein tolles Pilotprojekt zum Thema Diversity-Management gelungen.