Führen mit Vertrauen

Führen aus Distanz ist nicht wirklich neu, nun aber auf Grund der Corona-Krise besonders ins Augenmerk gerückt. Home-Office, eingeschränkte Möglichkeit zu reisen und Kurzarbeit machen diese Art der Mitarbeiterführung derzeit unausweichlich.

Susanne M. (Lohnverrechner) arbeitet von zuhause aus, nebenbei kümmert sie sich um die Kinder und managt den Haushalt. Ihr Team hat sie seit einem Jahr nicht gesehen. Ihr Chef meldet sich sporadisch und fragt, ob es ihr gut gehe. Klar doch, warum denn nicht, alles in bester Ordnung?! Ihre Motivation ist selbstredend im Keller.
Michael B. ist bei einem Automobilhersteller als Produktmanager tätig. Normalerweise reist er regelmäßig durch Europa, um mit den Händlern zu kommunizieren. Derzeit sitzt er im Home-Office den ganzen Tag vor dem PC. Er ist alleine, trifft außer nahen Angehörigen niemanden. Sein Chef meldet sich pflichtbewusst einmal im Monat, denn seine Performance ist ja ohnehin mehr als in Ordnung. Herr B. steht kurz vor dem Burn-out, denn seine Motivation für den Beruf waren das Reisen und soziale Kontakte mit vielen Menschen.
Diese Beispiele zeigen auf, in welch vielfältiger Weise sich die Corona-Krise in der Arbeitswelt manifestiert. Arbeitnehmer sind extrem gefordert, mit den neuen Situationen umzugehen, und nebenbei oft geplagt von Zukunftsängsten sowie von finanziellen Schwierigkeiten auf Grund von Kurzarbeit. Corona hat ermöglicht, was längst fällig gewesen war: Regelmäßige Arbeit und Führung aus dem Home-Office.
Jedoch: Mitarbeiter in dieser Situation zu führen, fordert Führungskräfte derzeit besonders. Viele von ihnen sind unerfahren, wenn es um Führung aus der Distanz geht. Sie vergessen leider regelmäßig die Gemüter der Mitarbeiter und sehen sich eher mit einem Kontrollverlust konfrontiert. Die wenigsten sind in diesem Thema geschult oder kennen die Besonderheiten. Woher auch?
Für diesen Artikel haben wir Führungsexperten zum Thema Distance Leadership interviewt.

Christian Marquart (Mitarbeiter des Stadt Wien Kompetenzteams »New Work, New Business« an der FH des BFI Wien): »Das Besondere an der aktuellen Führung auf Distanz liegt in mehreren Aspekten begründet: Erstens hat die Umstellung auf virtuelle Zusammenarbeit viele Unternehmen unerwartet getroffen. Vor allem all jene, die bislang noch keine Erfahrung mit Mobile Working hatten, waren hier plötzlich vor eine neue Herausforderung gestellt. Zweitens sehen wir uns noch immer mit einer globalen Pandemie konfrontiert. Dies multipliziert den Unsicherheitsfaktor ins Unermessliche. Hier gewinnt die Fürsorgeaufsichtspflicht des Arbeitgebers besondere Bedeutung. Führungskräfte, die bereits in größeren Veränderungsprojekten geführt haben, genießen hier einen klaren Vorteil. Die situationsbedingte, hohe emotionale Belastung fordert vor allem eine virtuelle Empathiefähigkeit von Führungskräften. Obwohl diese ebenfalls momentan durch sehr schwierige emotionale Phasen gehen, ist nun ihre starke Vorbildfunktion gefragt.«

Aus der Distanz zu führen, funktioniert nur auf Vertrauensbasis. Gerade wenn Mitarbeiter nicht im selben Gebäude, in derselben Stadt oder in derselben Region arbeiten, ist Vertrauen die wichtigste Zutat für erfolgreiches Führen.

Monika Herbstrith-Lappe (Geschäftsführer Impuls & Wirkung): »Führungskräfte, denen es an Vertrauen mangelt, verlangen von Mitarbeitern, dass sie beim Arbeiten die Kamera eingeschaltet haben, um immer kontrollieren zu können, ob sie auch wirklich bei der Sache sind. Das karikiert dieses Führungsmodell und ist höchst ineffektiv. Mikromanagement funktioniert aus der Ferne nicht. Wenn die Mitarbeiter eigenständiger arbeiten sollen und in der Operative mehr auf sich selbst angewiesen sind, braucht es umso klarere Ziele und Strategien, an denen sich alle Beteiligten orientieren können.«

Wer Teams aus der Ferne leitet, muss sich damit abfinden, dass persönliche Kontakte zu einzelnen Mitarbeitern seltener sind und dass spontane Besprechungen im Gegensatz zur Teamarbeit an einem Ort kaum möglich sind.

Georg Konjovic (CEO karriere.at): »Führungskräfte sollten jetzt ganz klar zeigen, wo es langgeht. Sie müssen für ihre Mitarbeiter da sein, ein Gefühl der Sicherheit vermitteln und Anleitungen geben. Was früher vielleicht einmal im Monat gereicht hat, sollte jetzt sehr viel öfter (in vielen Fällen auch täglich) passieren. Gerade in einer Krisensituation sollen auch persönliche Themen, Sorgen und Ängste angesprochen werden – nicht nur berufliche Ziele. Mitarbeiter brauchen jetzt einen sehr engen Austausch mit ihrer Führungskraft, aber auch untereinander. Pausen und ineffektive Zeiten sind da besonders wichtig.«

Vor- und Nachteile

Für all jene Unternehmen, die noch nicht umgestellt haben bzw. die Vorteile noch nicht erkannt haben, fragen wir nach, warum es sich auszahlt, in neue Strukturen zu investieren, um Remote Leadership zu ermöglichen. Führen auf Distanz erfordert klare, schlanke Prozesse sowie eindeutige Aufgaben und Rollen.

Georg Konjovic: »Als Führungskraft sollte man als Vorbild agieren und selbst vorleben, was man von seinen Mitarbeitern verlangt: z. B. seine eigenen Grenzen zu kennen und zu kommunizieren, nicht zu viel zu arbeiten etc. Der Vorteil beim Führen aus der Distanz ist definitiv, dass man eine ganz neue Ebene von Wertschätzung bieten und kennenlernen kann. Die Herausforderung ist, dass der Grat zwischen Kontrolle und Austausch oft ein sehr schmaler ist.«

Christian Marquart: »Virtuelle Tools genießen große Beliebtheit und ohne Pandemie würden viele Unternehmen noch immer in gewohnten, alten Systemen denken und arbeiten. Ein weiterer Vorteil ist ein verändertes Mindset vieler Führungskräfte. War Home-Office für viele damals noch undenkbar, so hat man jetzt gelernt, dass es möglich ist, wenn es sein muss. Ein weiterer Benefit, der sich nennen lässt, ist, dass dem Stellenwert der persönlichen realen Zusammentreffen wieder mehr Beachtung geschenkt wird. Erkennt man das Potenzial der virtuellen Zusammenarbeit, so werden in Zukunft die Momente des persönlichen Kontakts effizienter genutzt werden – ineffizient geführte Meetings gehören dann der Vergangenheit an. Ein Nachteil dieser zunehmenden Führung auf Distanz ist das stetig wachsende Distanzgefühl zur Organisation. Es besteht die Gefahr, dass Silo-Denken und Agieren in der eigenen ›Bubble‹ wieder vermehrt auftreten. Der wesentliche Nachteil dieser Ausnahmesituation trifft durch die Aufsichtspflicht schulpflichtiger Kinder leider zunehmend Frauen (mit oder ohne Führungsfunktion). Durch die andauernde Pandemie wurden alte Rollenmuster wieder verstärkt aufgegriffen. Die konstante Mehrfachbelastung wird sich zweifellos negativ auf die Karriereentwicklungen der Betroffenen auswirken.«

Die Pandemie verlangt ein Umdenken von Unternehmen. Das bietet natürlich Chancen, dass sich veraltete Strukturen nun in moderne Prozesse wandeln. Das verändert auch die Kultur, ob man will oder nicht.

Monika Herbstrith-Lappe: »Abgesehen davon, dass viele Führungskräfte und auch Mitarbeiter Home-Office sehr schätzen, kann ­Distance Leadership auch ein wertvoller Treiber für einen Kulturwandel der Führung darstellen. Führungskräfte widmen sich mehr ihren ureigensten Führungsaufgaben, z. B. Strategiearbeit und Planung. Die Mitarbeiter bekommen mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Ihr eigenständiges Arbeiten wird gefördert. Der große Nachteil besteht darin, dass viele informelle Kommunikationsmöglichkeiten wegfallen. Da steht die Falle von Missverständnissen und Konflikten besonders weit offen. ›Am meisten Zeit kosten die Gespräche, die man nicht geführt hat‹, gilt bei Distance Leadership umso mehr. Viele erleben Online-Meetings für wesentlich effektiver als Präsenzzusammenkünfte.«

Gelingt Führung aus der Distanz?

Damit Führung aus der Distanz für alle Beteiligten wirklich gut funktioniert, braucht es sowohl organisatorische Voraussetzungen als auch menschliche Eigenschaften und Kompetenzen. Eine Führungskraft, die auch aus der Distanz gut führt, zeichnet sich durch folgende Skills aus: Motivationskompetenz, Vorbildwirkung, Durchsetzungsvermögen, Offenheit, Vertrauen und Wertschätzung sowie Kreativität und Humor. Kommunikation ist also das Um und Auf.
Monika Herbstrith-Lappe: »Führen über Distanzen hinweg braucht mehr Klarheit in der Kommunikation. Gemeinsame Ziele und gegenseitige Erwartungen müssen möglichst unmissverständlich vereinbart werden. Es braucht auch mehr Qualität im Delegieren. Sinnvoll ist, dass Führungskräfte das ›WAS soll erreicht werden?‹ vorgeben und das ›WIE schaffen wir das?‹ den Mitarbeitern überlassen. Da die Möglichkeiten der spontanen Improvisation eingeschränkt sind, braucht es auch mehr Transparenz bei Prozessen. Dem effektiven Zusammenwirken an den Verbindungsstellen zwischen unterschiedlichen Verantwortungsbereichen sollte man allergrößtes Augenmerk schenken. Von entscheidender Bedeutung ist, dass in Unternehmen die übertragene Verantwortung auf der einen Seite und die delegierten Gestaltungsmöglichkeiten auf der anderen Seite ausgewogen sind, um dieser Verantwortung gerecht werden zu können. Teilaufgaben zu delegieren, ist nicht effektiv und es endet leicht in beiderseitigen Enttäuschungen. Viel klüger ist es, Verantwortungsbereiche mit den dazugehörigen Entscheidungsbefugnissen zu delegieren.«

Martin Ehrlich (VBC-Partner und Experte für Distance Leadership) fasst die Voraussetzungen zusammen: »Damit diese Art der Führung positiv verläuft, sind ein paar Punkte zu beachten:
Werden Sie als Führungskraft zum individuellen Online-Coach Ihrer Mitarbeiter!
Als moderne Online-Führungskraft von heute helfen Sie Ihren Mitarbeitern mit den richtigen Fragen, sich ihrer Ziele klar zu werden, neue Ideen zu entwickeln und Antworten auf Probleme und Herausforderungen zu finden. Setzen Sie erreichbare Zwischenziele auf dem Weg zum Jahresziel.
Fördern Sie einen regelmäßigen Informationsaustausch Ihres Teams (z. B. WochenJour-fixe über ein virtuelles Meeting) und damit den sozialen Austausch und den Teamgedanken.
Stärken Sie die Stärken der Mitarbeiter und fördern Sie deren Potenziale, in dem Sie Ihren Mitarbeitern regelmäßiges förderorientiertes Feedback geben!
Schaffen Sie Vertrauen: Glauben Sie an Ihre Mitarbeiter und setzen Sie alles daran, dass Ihre Mitarbeiter Ihnen vertrauen.
Hören Sie Ihren Mitarbeitern aktiv zu, und zwar genauer als je zuvor. Seien Sie sensibel, gehen Sie auf Ihre Mitarbeiter ein und finden Sie deren Emotionen, Bedürfnisse und Persönlichkeitsmerkmale heraus. Erkennen Sie deren Motive! Warum tun Ihre Mitarbeiter das, was sie tun? Was bewegt sie das zu tun, was sie tun? Schaffen Sie Erwartungsklarheit beiderseits.«

Christian Marquart: »Stimmungen in der Belegschaft zu verstehen und die virtuelle Dynamik eines geografisch verteilten Teams aufzugreifen, zu deuten und darauf angemessen zu reagieren, bedarf digitaler Brillanz und erhöhter sozialer Kompetenz. Hier liegt das Augenmerk noch stärker darauf, als Mensch virtuell wahrgenommen zu werden. Und das ist auf Distanz eine große Herausforderung. Eine weitere Challenge ist die Schaffung eines Gefühls der Verbundenheit – sowohl eines intakten Teamgefüges als auch die wahrgenommene Verbindung zum Unternehmen. Hierbei sind Führungskräfte besonders gefragt, kreative Lösungen zu finden, da sie im direkten Zusammentreffen ebenfalls die Organisationskultur mitsamt deren strategischer Ausrichtung verkörpern müssen.«

Georg Konjovic: »Wenn man die Mitarbeiter plötzlich nicht mehr sieht, empfinden das viele Führungskräfte als Kontrollverlust. Lange im Büro sein wird hier sehr oft gleichgesetzt mit ›Der leistet viel!‹. Führen auf Distanz braucht viel Vertrauen. Unternehmen, die auf traditionelles ›command and control‹ – also Chef befiehlt, Chef kontrolliert – setzen, haben das im vergangenen Jahr zu spüren bekommen. Eigenverantwortliches Arbeiten funktioniert auf Distanz besser als Kontrolle. Eine immer populärere Methode dafür sind OKRs (Objectives and Key Results). Dabei definieren Führungskräfte und Teammitglieder gemeinsam, welche Ziele erreicht werden sollen und alle Mitarbeiter überlegen selbstständig (idealerweise in Abstimmung mit dem Team), wie sie dazu beitragen können.«

Voraussetzungen im Unternehmen

Wie bereits beschrieben, braucht es nicht nur ein neues Mindset der Führungskraft, sondern auch neue organisatorische Rahmenbedingungen.
Georg Konjovic: »Eine Kultur des Vertrauens, der Offenheit und Authentizität und auch eine aktive Fehlerkultur sind hier meines Erachtens besonders wichtig. Regelmäßige und transparente Kommunikation zu Entwicklungen und auch schwierigen Themen sind das A und O – nicht nur für Krisensituationen. Als Arbeitgeber sollte man schnellstmöglich entscheiden, ob man Home-Office auch nach der Corona-Krise nachgehen kann oder will. Dazu müssen Rahmenbedingungen geschaffen und Vereinbarungen getroffen werden. Klug ist, wer sich bereits jetzt darum kümmert.«

Christian Marquart: »Die Schaffung einer offenen Vertrauenskultur ist für ein erfolgreiches Teamwork unabdingbar. Weiters ist es wichtig, ein Bewusstsein für ein gemeinsames Ziel zu etablieren, auf das hingearbeitet wird und über das sich jedes Teammitglied klar ist. Als dritter Faktor sei noch eine gesunde Beziehung zwischen den Mitarbeitern genannt. Latente oder verhärtete Konflikte sind Gift für die Teamarbeit. In dieser speziellen Situation kommt noch ein weiterer Erfolgsfaktor hinzu: eine strukturgebende, offene Fehlerkultur, um der stetigen Unsicherheit entgegenzuwirken. Strukturen können gemeinsame Planungsschritte sein, wiederholende Check-ups, aber auch auf der Beziehungsebene wiederholende Rituale – wie eine gemeinsame virtuelle Kaffeepause – die vor allem die persönliche Ebene stärken.«

Martin Ehrlich erkennt die Relevanz von Coaching: »Eine der Voraussetzungen ist es, dass Unternehmen sich schnell auf Veränderungen und Herausforderungen einstellen können. Ein wirksames Werkzeug dazu ist das Coaching und Online-Coaching. Um die Stellhebel für ein nachhaltiges und erfolgreiches Online-Coaching zu setzen, bedarf es dafür ausgebildeter Online-Führungskräfte, die es schaffen, ihre Mitarbeiter auch über die Distanz zu motivieren. Führungskräfte, die selbst auch motiviert und gewillt sind, ihre Mitarbeiter weiterzuentwickeln. Positive Veränderung braucht auch Zeit und Impulse. Denn ohne etwas zu tun, wird man auch nichts erreichen. Das optimale Ergebnis gut ausgebildeter Online-Coaches sind motivierte, lernbereite Mitarbeiter, die sich mit dem Unternehmen identifizieren, die Werte des Unternehmens leben und die gemeinsam gesetzten Ziele erreichen.«

Fazit
Das Führen aus der Ferne bietet Chancen für Mitarbeiter und Führungskräfte. Es muss jedoch ein Umdenken in der Organisation, bei Mitarbeitern und Führungskräften stattfinden. Technik, Arbeitszeit, Rollen, Prozesse, Erreichbarkeit, Datensicherheit, Regeln für virtuelle Meetings etc. sind nur einige der Themen, die durchdacht und möglicherweise im Unternehmen angepasst werden müssen. Vertrauen als Basis muss hergestellt bzw. verfestigt werden, um erfolgreich zu führen. Leistungskontrollen anhand von Anwesenheitszeiten sind von gestern. Das Ergebnis zählt, wie, wann und wo dieses erreicht wird, ist heutzutage nebensächlich geworden.

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