Analytische Tools werden von HR-Abteilungen gerne im Recruiting eingesetzt. Doch Potenzialanalysen können viel mehr. TRAiNiNG hat mit Anbietern und Experten über Chancen, Anwendungsfelder und Auswahlkriterien gesprochen.
Das große Kündigen oder »the great resignation« war eines der Hauptthemen in diesem Frühling bei HR-Veranstaltungen. In den letzten Jahren haben viele Mitarbeiter ihren aktuellen Job hinterfragt und gekündigt, zahlreiche weitere denken daran, bis zum Jahresende nicht mehr für den aktuellen Arbeitgeber tätig zu sein. Angesichts dieser Problematik stehen viele Unternehmen daher vor zwei großen Herausforderungen: Neue Mitarbeiter zu finden und bestehende zu halten. Für beide Themen eignen sich unter anderem analytische Testverfahren. Einerseits im Recruiting, um wirklich gut passende Mitarbeiter zu finden. Andererseits um die Potenziale der bestehenden Mitarbeiter zu erkennen und sie entsprechend ihrer Stärken einzusetzen und zu fördern. Das steigert die Motivation und trägt dazu bei, dass Mitarbeiter längerfristig im Unternehmen bleiben.
TRAiNiNG wollte wissen, wie sich die Nachfrage nach analytischen Tools derzeit entwickelt.
Christina Hackl (Coach und Berater bei KICK OFF Management): »Die Nachfrage nach Tools ist nach der Pandemie-Zeit wieder stark angewachsen. Viele Unternehmen wollen in ihrem Recruiting-Prozess effizient und treffsicher agieren, um nach der Pandemie so schnell wie möglich wieder in die Gänge zu kommen. Auch gibt es in vielen Unternehmen die Notwendigkeit, jetzt ihre Teams neu zusammenzusetzen.«
Aufgrund von Home-Office und weniger persönlichen Kontakten wurden und werden viele Potenzialanalysen online durchgeführt.
Ulrike Kriener (HR Consultant bei AUMAIER CONSULTING | TRAINING GMBH) über Vor- und Nachteile: »Die Potenzialanalyse stellt nach wie vor eine gute Möglichkeit dar, einen zusätzlichen Eindruck von Bewerbern zu gewinnen. Durch die Reduktion des persönlichen Kontakts in der Pandemie wurden Links zur Potenzialanalyse verschickt. Bewerber können die Analyse dadurch an jedem Computer zur selbstbestimmten Zeit durchführen. Die Reduktion der Items und die Durchführung ohne Beisein eines Experten bringen aber auch Nachteile für Bewerber und Unternehmen mit sich: Die Bewerber erhalten bei technischen Schwierigkeiten und unmittelbar auftauchenden Fragen die Lösungen nicht in time, sondern zeitversetzt. Das Unternehmen erhält weniger Informationen, da über Video Körpersprache und Auftritt der Bewerber nur eingeschränkter wahrgenommen werden können.«
Funktionsweise
Bei den meisten Potenzialanalysen wird den Kandidaten über einen Link ein Zugang zu einem elektronischen Fragebogen gewährt. Die Beantwortung der Fragen dauert zwischen 20 und 60 Minuten und beinhaltet viele Redundanzen, um wirklich ein gesichertes Bild der Bewerber/Mitarbeiter zu erhalten. Danach erhalten die Kandidaten und das Unternehmen eine Standardauswertung mit der Empfehlung, das Ergebnis mit einem Berater zu besprechen.
Louisa Forstner (Senior Consultant Scheelen GmbH): »Unternehmen können die Tools selbstständig einsetzen oder externe Berater hinzuziehen, wenn sie keine internen Experten ausbilden können oder möchten. Hier kommt es auf die Unternehmensstrategie an. Unsere Kunden lassen in der Regel Mitarbeiter von uns zu Experten ausbilden, sodass sie selbst Feedbackgespräche führen können. Projektweise werden wir als externe Berater hinzugezogen, zum Beispiel bei Führungskräfteentwicklungsprogrammen.«
Auch Ulrike Kriener sieht es als wichtig an, einen Profi zu kontaktieren: »Für die Interpretation der Ergebnisse ist Expertenwissen nötig. Nicht nur einzelne Werte in einer Potenzialanalyse sind ergebnisrelevant, sondern auch die Zusammenschau der Profilkurve. Mehrjährige, einschlägige Erfahrung unterstützt treffsichere Interpretationen.«
Die Structogram-Analyse läuft etwas anders ab, wie Ursula Autengruber (Geschäftsführer Structogram Österreich) berichtet: »Die Biostruktur-Analyse, oder besser bekannt als ›Structogram‹, ist Teil eines Workshops, in dem man mit einer Selbstanalyse die eigenen Stärken und Fähigkeiten, aber auch Defizite erkennt, die genetisch bedingt sind. Damit versteht man die eigenen Verhaltensmuster und Motivationen und erkennt auch, warum man mit manchen Menschen besser auskommt als mit anderen. Man versteht aber auch, warum manche Arbeiten leichter von der Hand gehen und andere mühsamer sind, oder hier leichter Fehler passieren können. Zusätzlich zur Analyse ist die Begleitung durch Trainer wichtig, die anhand von konkreten Aufgabenstellungen die Umsetzung in die Praxis erleichtern und immer wieder auf Unterschiedlichkeit und Synergien hinweisen. Diese Begleitung kann natürlich auch von internen Structogram-Trainern erfolgen, damit ist das Unternehmen von Beratern unabhängig.«
Zielgruppe der Analysen
Eine Potenzialbeurteilung mittels analytischer Verfahren kann u. a. immer dann hilfreich sein, wenn eine Personalveränderung ansteht. Also beim Recruiting, bei Versetzungen oder bei möglichen Beförderungen.
Christina Hackl: »Potenzial- und Kompetenzanalysen sollten nicht nur im Recruiting eingesetzt werden. Sie haben sich auch in Teambuilding und -entwicklungsprozessen als sehr nützlich erwiesen. Dies gilt auch für die Führungskräfte- und die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen. Auch haben wir gute Erfahrungen damit gemacht, wenn es darum geht, schlagkräftige Projektteams aufzustellen.«
Ursula Autengruber: »Zielgruppe vom Structogram kann jedes Team sein, das möchte, dass die eigenen Mitarbeiter ihre eigenen Potenziale ausschöpfen können und sich im Team optimal ergänzen. Natürlich kann es auch eine Vertriebsabteilung sein, die das Wissen für die bessere Betreuung ihrer Kunden nützen möchte. Optimal ist es, die Analyse bei der Zusammenstellung eines Teams – z. B. bei einem Projekt – zu machen, dann kann man die einzelnen Biostrukturen der Projektmitarbeiter schon bei der Aufgabenverteilung berücksichtigen und eventuell fehlende Kompetenzen ergänzen.«
Louisa Forstner: »Unsere Zielgruppe sind Unternehmen, die Mitarbeiter passgenau einsetzen möchten, die ihre Mitarbeiter weiterentwickeln und Teams zusammenschweißen wollen. Recruiting ist nur ein Teilbereich der Einsatzmöglichkeiten. Es ist wichtig, die Mitarbeiter ihren Stärken und Motivatoren entsprechend einzusetzen. Nur so kann eine langfristige Mitarbeiterzufriedenheit und damit -bindung erreicht werden. Außerdem werden jene Mitarbeiter am erfolgreichsten sein, deren Handeln mit ihren Motivatoren im Einklang ist. Ohne Analyse fische ich hier im Trüben, und muss mich rein auf die Erfahrung der HR-Mitarbeiter verlassen. Ich habe erst kürzlich mit einer Führungskraft gesprochen, die mir erzählte, dass sie jetzt, nach jahrelanger Tätigkeit und Erfahrung, in der Lage sei, die passenden Mitarbeiter einzustellen. ›Wie gerne hätte ich so eine Analyse früher als Unterstützung gehabt‹, war das Fazit.«
Chancen für Teams
Wie Potenzialanalysen speziell für bestehende oder neue Teams eingesetzt werden können, wollte TRAiNiNG im Detail wissen.
Ulrike Kriener: »Ein guter Team-Mix ist wichtig, stellt jedoch für die Teammitglieder auch eine Herausforderung dar. Sie müssen gut mit dieser Verschiedenheit der Charaktere umgehen können, um einander zu akzeptieren und gut miteinander arbeiten zu können. Persönlichkeiten, die wenig emotional stabil sind, oder Persönlichkeiten, die gar nicht teamfähig sind, können über die Analyse identifiziert werden. Nicht für jeden Menschen ist ein Team ein geeigneter Ort, sich beruflich voll zu entfalten.«
Christina Hackl: »Durch Potenzialanalysen wie z. B. Wingfinder oder auch TMA (Talent- und Motivations-Assessment) können im Vorfeld die einzelnen Team-Mitglieder durch Selbsteinschätzung und Selbstreflexion ihre Potenziale erkennen, und damit können die Teamzusammensetzung und das Arbeiten im Team wesentlich optimiert werden. Besonders jetzt nach der Pandemie, wo sich oftmals Teams wieder neu formieren und wir alle durch einen Krisen- und Veränderungsprozess gegangen sind, erachten wir diese Vorgangsweise nicht nur bei neu zu bildenden Teams, sondern auch bei bestehenden, als äußerst sinnvoll.«
Ursula Autengruber: »Das Structogram bietet einem Team die Chance, Unterschiedlichkeiten im Verhalten zu verstehen und Synergien zu nützen. Außerdem verbessert sich die Kommunikation und Missverständnisse werden weniger. Wenn ich verstehe, warum ein Mensch so handelt, dann nehme ich es weniger persönlich, ärgere mich weniger und kann gelassener damit umgehen. Der Stresspegel sinkt, bei mir und bei meinem Kollegen, damit sinkt auch die Fehlerquote, Teamergebnis und Teamklima werden besser.«
Louisa Forstner: »Fehler in Unternehmen passieren zu über 90 % wegen mangelhafter Kommunikation. Wenn ein Team sich richtig kennenlernen darf, dann kann man die Stormingphase (Bruce Tuckman), die jedes Team durchläuft, deutlich verkürzen, was Kosten durch Fehler einspart. Potenzialanalysen liefern hier einen unschätzbaren Vorsprung, weil sie für mehr Verständnis sorgen und blinde Flecken aufdecken.«
Auswahl eines Anbieters
Je nach Anlass, Unternehmensgröße, Budget und persönlichen Vorlieben steht am Markt eine Fülle an Anbietern zur Verfügung. Nicht alle halten, was sie versprechen. Worauf sollten Sie achten, wenn Sie sich für ein Analysetool interessieren?
Christine Hackl: »Wichtig ist, sich im Vorfeld mit dem Coach und Berater in einen Austausch zu begeben, um Klarheit zu gewinnen, wie die tatsächlichen und aktuellen Anforderungen sind. Tools, die sowohl die intrinsischen als auch die erlernten Fähigkeiten der Kandidaten betrachten, sind aus unserer Sicht am wertvollsten, wie es z. B. beim Wingfinder-Test der Fall ist. Seine Stärken zu kennen, einzusetzen und zu verbessern ist für ein Unternehmen und für seine Mitarbeiter immer relevant. Ein weiterer Aspekt und ein wirkliches Asset ist ein professionelles Debriefing mit einem zertifizierten Berater. Denn hier geht es um Feedback und gegebenenfalls auch um die Erkennung von Lernfeldern – je nachdem, wofür der Test gemacht wurde.«
Ulrike Kriener: »Wichtig ist nach den Gütekriterien des Tools zu fragen und diese zu prüfen. Derzeit ist es auch wichtig, dass die Potenzialanalyse von zu Hause aus durchgeführt werden kann. Berater sollten nach Expertise und Interpretationserfahrung ausgewählt werden.«
Ursula Autengruber: »Analyse-Tools sind im Recruiting aktuell, sehen aber oft nicht die umfassende Persönlichkeit. Meist fragen sie die Komponenten wie Wissen, Fakten, Kombinationsfähigkeit, Tempo ab. Was die Person sonst noch mitbringt – und was für die Zusammenarbeit im Team wichtiger wäre – bleibt häufig unberücksichtigt. Daher müssen Unternehmen bei der Auswahl eines Anbieters darauf achten, was sie wirklich messen möchten.«
Louisa Forstner: »Bei der Auswahl eines Anbieters ist darauf zu achten, ob die Analyse wirklich das misst, was ich für meine Arbeit benötige. Benötige ich nur eine Verhaltensanalyse oder möchte ich auch Motivatoren oder emotionale Intelligenz messen können? Möchte ich die Analyse vor allem im Recruiting einsetzen, in der Personalentwicklung oder beidem? Wichtig ist in jedem Fall, dass die Analyse in vielen Sprachen zur Verfügung steht, wenn meine Mitarbeiter unterschiedliche Muttersprachen haben. Je genauer der Input in eine Analyse, desto präziser ist auch der Output. Idealerweise sollten die Mitarbeiter die Analyse in ihrer Muttersprache ausfüllen können. Außerdem ist der Support durch den Anbieter wichtig. Gibt es Ausbildungen, kann mich der Anbieter gegebenenfalls auch in der Erstellung von Kompetenzprofilen oder HR-Strategien unterstützen? Kann ich mit der Analyse ein Benchmark durchführen, hätte ich gerne für meine Führungskräfte ein internationales Benchmark? Bekomme ich Unterstützung durch den Anbieter in Form von Coachings oder Trainings? Gibt es Teamanalysen, 360°-Feedbacks oder Stressanalysen?«
Fazit
Potenzialanalysen helfen HR-Abteilungen dabei, die richtigen Personen für die passende Stelle zu finden. Sie helfen dabei, die Talente und Fähigkeiten von Mitarbeitern zu entdecken und sie entsprechend einzusetzen. Das sorgt für Zufriedenheit und längeren Verweildauern im Unternehmen. Falsche Personen einzustellen ober richtige Personen in der falschen Position zu beschäftigen, sorgte und sorgt zu allen Zeiten für Unzufriedenheit und höhere Fluktuation.