Viele Bewerber, besonders aus den jüngeren Generationen, legen heute Wert darauf, in einem diskriminierungsfreien Umfeld zu arbeiten. Eine Möglichkeit, um dies bereits im Bewerbungsprozess umzusetzen, sind anonymisierte Bewerbungen.
Bei einem anonymen Bewerbungsverfahren reichen Kandidaten ihre Bewerbungsunterlagen inklusive Lebensläufe ohne Namen, Fotos und ohne Angaben zu Alter, Herkunft, Religion, Familienstand und Geschlecht ein. Ausschließlich die angeführten Qualifikationen sollen darüber entscheiden, wer zum Vorstellungsgespräch eingeladen wird und wer nicht. Erst dort erfahren die Recruiter Name, Alter, Geschlecht etc.
In einer aktuellen Studie (durchgeführt von der KÖNIGSTEINER Gruppe) aus Deutschland im März 2022 zeigte sich, dass sich Kandidaten durchaus mit der Idee von anonymen Bewerbungen anfreunden können. Befragt wurden 1 000 Beschäftigte zum gewünschten Umgang mit Bewerberdaten.
Demnach wünschen sich fast ein Drittel der Befragten (32 %) Bewerbungen, in denen vor einer Einladung zum Bewerbungsgespräch die Altersangabe fehlt. 41 % würden gern auf ein Bewerbungsfoto verzichten. Und ein Viertel favorisiert gar Bewerbungsunterlagen, in denen zunächst der Name der Kandidaten fehlt. 28 % halten zudem die Angabe des Geschlechts für überflüssig. »In Ländern wie den USA oder Großbritannien gehören Inkognito-Bewerbungen ganz selbstverständlich zum Recruiting-Prozess der Arbeitgeber. Geht es nach dem Wunsch vieler Bewerber, kann das auch bald hier der Fall sein. Denn vor allem Frauen wünschen sich diese Praxis im Sinne einer gleichberechtigteren Personalauswahl«, so Nils Wagener (Geschäftsführer der KÖNIGSTEINER Gruppe).
In einer Umfrage von Statista von 2018 wurden Personen befragt, was für sie dagegen spricht, sich anonym auf einen Job zu bewerben.
- 52 % sind der Meinung, dass sorgt nur für Aufschub im gesamten Prozess, denn beim Vorstellungsgespräch werden die Angaben zu der Person ohnehin bekannt.
- 34 % stimmen der Aussage zu, dass anonyme Bewerbungen alleine die Leistungen der Person bewertet, aber nicht den individuellen Berufsweg oder die persönlichen »Umstände«.
- 34 % der Befragten sind außerdem der Meinung, dass es in Unternehmen bestimmt nicht gerne gesehen wird.
- Zum Zeitpunkt der Erhebung waren »nur« rund 37 % der Befragten der Meinung, dass anonyme Bewerbungsverfahren teilweise zu mehr Gerechtigkeit im Bewerbungsverfahren beitragen und somit Diskriminierung verhindern könnten.
Recruiting frei von Diskriminierung ist das Ziel von anonymen Bewerbungsverfahren. Durchgesetzt haben sich diese zumindest in Österreich noch nicht. Aber das ändert sich gerade. TRAiNiNG hat 2 Experten nach den Gründen gefragt.
Renate Kerbler-Pillhofer (Referent der ARS Akademie): »Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass wir in den aktuellen Bewerbungen viele Veränderungen bezüglich der persönlichen Angaben erleben: Geschlecht oder Familienstand sind nur noch in seltenen Fällen zu finden. Wir sehen auch zunehmend Bewerbungen ohne Altersangaben. Bei den Fotos gibt es einen klaren Unterschied bei den verschiedenen Bewerbergruppen. Sowohl die Generation Z, im Alter von 15 bis 30 Jahren, als auch ältere Bewerber – tendenziell mit eher höheren Abschlüssen – fügen viel seltener ihre Bewerbungsfotos an als andere. Hier erkennt man ein klares Umdenken vonseiten der Bewerber. Diese Veränderung kommt auch langsam bei den Unternehmen an. Bis vor einigen Jahren haben viele Führungskräfte noch gesagt: ›Bewerbungen ohne Foto schau ich mir erst gar nicht an.‹ Aber aufgrund der geringen Bewerberzahlen kann sich dies kaum mehr jemand leisten. Darum glaube ich, dass hier gerade deutliche Veränderungen stattfinden, beschleunigt durch den Bewerbermangel und gesellschaftlichen Wandel.«
Nikolai Dürhammer (Managing Director Step-Stone): »Der deutschsprachige Raum hinkt hier leider etwas hinterher. Während anonymisierte Bewerbungsverfahren im angelsächsischen Raum bereits Standard sind, erwarten Personaler in Österreich weiterhin oft Zeugnisse, Referenzen und ein Bewerbungsfoto. Prinzipiell herrscht in hiesigen Personalabteilungen oft Skepsis, ob anonymisierte Verfahren einen Mehrwert haben. Eine große Sorge ist der Effizienzverlust – also dass Recruiter umsonst Bewerber zum Gespräch einladen, die sie andernfalls im Vorhinein schon als nicht passend aussortiert hätten. Auch die Angst vor hohen Kosten für ein neues Bewerbungssystem und erhöhtem Bearbeitungsaufwand lässt in Österreich manche Unternehmen zögern. Und nicht zuletzt fürchtet man auch, dass die Forderung nach anonymen Bewerbungsunterlagen auch Kandidaten abschrecken könnte.«
Vorteile anonymer Bewerbungen
Laut einer im Harvard Business Review veröffentlichten Studie (https://hbr.org/2014/05/in-hiring-algorithms-beat-instinct) verlässt sich die Mehrheit der Recruiter bei der Bearbeitung von Bewerbungen auf die Intuition (85 – 97 %). Dies kann zu unerwünschten Vorurteilen führen.
Nikolai Dürhammer: »Genauso wie ein Porträtfoto, das wir umgehend als sympathisch oder unsympathisch bewerten, beeinflussen uns Aspekte wie Name, Alter, Herkunft oder Geschlecht. In der Personalauswahl kann das gravierende Folgen haben: Habe ich ältere Kandidaten aussortiert, obwohl sie vielleicht die perfekte Wahl gewesen wären? Lade ich eine Frau nicht ein, weil die Stelle ein klassischer ›Männerjob‹ ist? Anonyme Bewerbungen erhöhen nicht nur die Zahl potenziell interessanter Kandidaten, sondern helfen auch, mehr Diversität ins Unternehmen zu bringen. Mehrsprachigkeit, unterschiedliche berufliche Erfahrungen, neue kulturelle Perspektiven – die meisten Betriebe erkennen heute darin einen unbezahlbaren Mehrwert. Ein weiterer Punkt betrifft das Thema Employer Branding: Junge, moderne Fachkräfte erwarten sich ein Unternehmen, das für Fairness und Diversität eintritt.«
Nachteile anonymer Bewerbungen
Eine Schwäche dieser Methode ist der erhöhte Bearbeitungsaufwand für die Recruiter, wenn die Unterlagen einzeln im Nachhinein anonymisiert werden müssen. Viele interne Bewerbermanagementsysteme können solche Bewerbungen nicht verarbeiten. Ein Einsatz ohne digitale Lösungen im Bewerbermanagement ist heute allerdings nicht mehr zeitgemäß. Besonders nicht bei Mittel- und Großbetrieben. Manche Bewerber lassen sich auch davon abschrecken, wenn ausschließlich eine anonymisierte Bewerbung angenommen wird. Das reduziert möglicherweise den Rücklauf. Und natürlich genügt es nicht, alleine auf anonymisierte Bewerbungsschreiben zu setzen. Die Recruiter müssen auch entsprechend geschult sein, damit die Objektivität dann auch im Bewerbungsgespräch gewährleistet ist.
Um das sicherzustellen, könnte ein weiterer Schritt, der noch vor einem persönlichen Gespräch erfolgt, ein Telefonat sein, wo zwar meistens das Geschlecht klar sein wird, aber viel mehr auch schon nicht.
Nikolai Dürhammer: »Manche Recruiter sind besorgt, dass anonymisierte Bewerbungen einen gegenteiligen Effekt haben: Diversität könne so nicht erkannt und gefördert werden, etwa wenn Unternehmen gezielt Mitarbeiter mit Migrationshintergrund und zusätzlichen kulturellen und sprachlichen Kompetenzen einladen wollen. Ein weiterer Punkt, den Gegner geltend machen: Anonymisierte Verfahren bedeuten einen erheblichen Ressourcenaufwand bei wenig Mehrwert. Jobprofile, Bewerbungsplattformen, Begutachtung und Interviews müssen überarbeitet oder ganz neu konzipiert werden, um einen wirklich anonymen Prozess zu ermöglichen. Und selbst dann sind Personaler meist in der Lage, aus den angegebenen Bewerberinformationen Schlüsse auf den persönlichen Background zu ziehen. Es kostet sie in der Regel nur unnötig mehr Zeit. Außerdem beklagen manche Recruiter, dass anonyme Direktbewerbungen in beliebten Karrierenetzwerken wie LinkedIn kaum möglich sind.«
Renate Kerbler-Pillhofer: »Teils fehlen uns noch die Alternativen zu den personalisierten Angaben. Schwierig ist es zum Beispiel beim Namen, bei dem viele meinen, die Herkunft daraus ablesen zu können. Zum einen funktioniert dies nicht immer, zum anderen kann dies aber auch oft die Basis für Diskriminierung sein. Grundsätzlich weist uns der Name als Person aus und macht uns in Kombination mit anderen Angaben wie Geburtsdaten, Sozialversicherungsangaben eindeutig identifizierbar. Allerdings lässt sich eine Bewerbung ohne Namen auch nur schwer einer Persönlichkeit mit ihren individuellen Kompetenzen zuordnen. Hier müssen noch funktionierende Lösungen gefunden werden.«
Sinnvolle Anwendung
Dieses Verfahren zu implementieren, ergibt immer dann Sinn, wenn diskriminierungsfrei Personal gesucht werden soll. Es muss aber nicht immer die beste Wahl darstellen.
Nikolai Dürhammer: »Grundsätzlich ist die anonyme Bewerbung für viele Positionen sinnvoll, gerade angesichts des grassierenden Fachkräftemangels. Das anonyme Verfahren stellt Recruiter einen größeren Kandidatenpool zur Verfügung und schafft gerade in der ersten Bewerbungsphase mehr Fairness und Übersicht. Auf der anderen Seite verlangen manche Berufe ein großes Maß an individueller Selbstpräsentation: So sind persönlich gestaltete Bewerbungen vor allem im Kreativsektor wichtig, für hohe Führungspositionen werden oft klare Details und Informationen zur Person und ihrem Werdegang benötigt. Auch für Berufseinsteiger und Menschen mit wenig Berufserfahrung kann die anonyme Bewerbung ein Hindernis sein: Sie können nicht mit vielen Karrierestationen punkten und werden dazu noch der Möglichkeit beraubt, sich mit einer gut gemachten, individuellen Bewerbung hervorzutun.«
Alternativen
Experten beschäftigen sich schon länger mit der Frage, wie Mitarbeiter fair und frei von Diskriminierung ausgewählt werden können. Anonymisierte Bewerbungen stellen eine Möglichkeit dar, doch es gibt noch andere Punkte, die bei diesem Thema wichtig sind.
Nikolai Dürhammer: »Einer unserer Werte bei StepStone ist beispielsweise ›we radically include‹ und das verstehen wir StepStoner als Handlungsauftrag. Derart klare Ansagen und Ausrichtungen helfen den jeweiligen Entscheidern im Unternehmen, inklusive Entscheidungen zu treffen. Hilfreich ist auch, wenn schon das HR-Team divers besetzt ist und Unterschiede im Hinblick auf Alter, Geschlecht und Herkunft reflektiert. Auch den Recruitingprozess zu verbreitern und Bewertungen durch das gesamte Team statt einer einzelnen Person zuzulassen, bietet Sicherheit gegen Vorurteile. Nicht zuletzt gibt der Blick auf interne Zahlen und Fakten Aufschluss: Wie hoch ist das Durchschnittsalter im Betrieb? Ist das Geschlechterverhältnis ausgewogen? Wie viele internationale Mitarbeiter beschäftigt die Firma? Diese Ergebnisse machen konkreten Handlungsbedarf ersichtlich, fast mehr noch als strukturierte Interviews und anonymisierte Bewerbungen.«
Renate Kerbler-Pillhofer: »Entscheidend ist zum einen die Haltung der verantwortlichen Person: Mit welcher Einstellung gehe ich auf meine Gesprächspartner zu? Welche Chancen, Kompetenzen und Potenziale kann ich in meinem Gegenüber sehen? Erkenne ich die Möglichkeiten, die sich durch eventuell unterschiedliche Erfahrungen und Sichten ergeben? Und bin ich bereit, mich mit einer möglichen Diversität des Anderen auseinanderzusetzen? Gerade dafür braucht es die Bereitschaft von beiden Seiten, sich zu öffnen und im Dialog auf andere zuzugehen sowie Vorurteile und Vorbehalte hinten anzustellen. Zum anderen kann man dem Recruiting-Prozess selbst objektiver gestalten: Durch standardisierte Verfahren in Assessments und Hearings; durch die Gesprächsführung durch mehrere Personen, um individuelle Eindrücke auszugleichen; durch Praxisübungen und Testverfahren, die von allen Bewerbern unter vergleichbaren Bedingungen durchgeführt werden oder auch durch den Einsatz von Algorithmen bei der Auswahl, wenn ein automatisierter Abgleich von Lebenslauf und den Anforderungen der Stellenanzeigen stattfindet.«
Fazit
Bewerber gar nicht erst zu einem persönlichen Gespräch einzuladen, weil das Foto oder der Name den Recruitern nicht passen, ist ganz schlecht. Erstens ist es für das bestehende Team ein falsches Zeichen, zweitens lässt sich das Unternehmen dadurch vielleicht großartige Mitarbeiter entgehen. Den Bewerbungsprozess zu überdenken und zu überarbeiten, könnte Abhilfe schaffen. Bewerbungen anonym auszuwerten, ist eine Möglichkeit.