Was unterscheidet Kompetenz von Potenzial? Und welche Chancen können analytische Tools dazu bieten? Welche Gefahren lauern?
Tests, Fragebögen, KI-gestützte Kompetenzanalysen, Tiefeninterviews, 360-Grad-Feedbacks, Hearings, Development Centers, Managementaudits und, und, und. Die Fülle an eignungsdiagnostischen Verfahren zur Erkennung von Potenzialen ist enorm und schier endlos. Kein Wunder, dass viele Unternehmen und HR-Manager angesichts des Überangebots an idealen »Patentlösungen« den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen.
Kompetenz vs. Potenzial
Kompetenz ist die Befähigung einer Person, unterschiedliche Handlungsanforderungen erfolgreich zu bewältigen. Die Person greift dabei auf Erfahrung, Fähigkeiten, Qualifikationen, Wissen und Kenntnisse aus der Vergangenheit zurück – Kompetenz zeigt sich durch konkrete Ergebnisse und Verhalten als Leistung.
Potenzial bedeutet die noch nicht ausgeschöpfte Möglichkeit und geht über die aktuell erbrachte Leistung hinaus, ist also auf die Zukunft ausgerichtet.
Die begriffliche Unterscheidung zwischen Kompetenz und Potenzial erscheint noch einfach, jedoch ist es in der Praxis speziell für Führungskräfte um ein Vielfaches herausfordernder, zu erkennen und zu beobachten, ob jemand Potenzial hat oder nicht, und falls ja, wofür jemand Potenzial hat: Für welche Aufgabe? Für welchen Job? Antizipation eines Karriereschritts?
Eine Gleichung aus der Welt des Sports kann dabei helfen, anhand der Demonstration »Liegestützübung« Potenziale zu erkennen (durchgeführt in Trainings mit Führungskräften): Person A schafft 5 Liegestütze unter größter Anstrengung. Person B schafft 10 Liegestütze mit Leichtigkeit. Der Hintergrund dieser simplifizierenden Übung ist: Potenzial hat mit Leichtigkeit, Reserven und Energie zu tun. Sobald jemand die Anforderungen mit Leichtigkeit erfüllt, hat diese Person noch Reserven, d. h. Potenzial. Sie ist noch nicht am Limit angelangt.
Typische Potenzialanalyse-Verfahren
In Unternehmen werden Potenzialanalysen einerseits in der Personalauswahl eingesetzt, andererseits im Rahmen der Personalentwicklung zur Identifizierung und Förderung bestehender Potenzialträger, als Entscheidungsbasis für Einstellungs- und Entwicklungsprozesse bzw. Führungskräftebesetzungen. Da es um eine Ableitung für die Zukunft geht, gilt es, die Personen mit Anforderungen zu konfrontieren, die über die heutige Leistung hinausgehen. Gleichzeitig sollten auch wichtige Persönlichkeitsvariablen wie Motivation erfasst werden, als Grundlagen für die langfristige Leistungsfähigkeit auch in neuen Aufgabengebieten.
Testverfahren kommen dann zum Einsatz, wenn Informationen relevant sind, die über Interviews und eine Verhaltensbeobachtung hinausgehen. Der Markt an Persönlichkeitsfragebögen und -tests ist inzwischen wenig durchschaubar. Bei der Auswahl ist neben der Frage der grundsätzlichen Zielsetzung darauf zu achten, wie und mit welcher Zielsetzung dieses Verfahren ursprünglich vom Anbieter entwickelt wurde. Nur ein geringer Teil der Tests wird wissenschaftlichen Qualitätskriterien gerecht.
Neben den klassischen Verfahren gibt es eine Fülle an weiteren (Kombinations-)Möglichkeiten, die Potenziale von zukünftigen oder bestehenden Mitarbeitern erkennbar machen. Dazu zählen z. B. Führungsplanspiele, Management-Audits und Self-Assessments. Nicht zuletzt verfügen viele Arbeitgeber bereits über bestehende Führungs- und Personalentwicklungs-Instrumente, die Informationen über Kompetenzen und Potenziale beinhalten, beispielsweise Mitarbeitergespräche, Mitarbeiterbeurteilungs- und Zielvereinbarungssysteme.
Chancen und Gefahren
Sich als Unternehmen mit den Potenzialen zukünftiger und aktueller Mitarbeiter zu beschäftigen, ist ein strategisches, langfristiges und mitunter Ressourcen-intensives Unterfangen. Wesentliche Voraussetzung ist somit die Befürwortung und Unterstützung aller Maßnahmen durch die Unternehmensleitung sowie klar definierte und kommunizierte Ziele, die damit verfolgt werden sollen. Ist dies gegeben, so können Unternehmen u. a. in folgenden Bereichen profitieren:
- Entscheidungshilfe: Potenzialanalysen unterstützen das Management dabei, gute Personalentscheidungen nach möglichst objektiven Kriterien zu treffen.
- Mitarbeiterbindung: Werden die »richtigen« Personen in einem Auswahlverfahren erkannt bzw. Mitarbeiter in ihrer Entwicklung gefördert, hat dies Auswirkungen auf Motivation, Leistungs- und Bleibebereitschaft.
- Employer Branding: Fördert das Unternehmen bestehende Mitarbeiter in ihren Karrierewegen oder kommen innovative Potenzialanalysen im Recruiting zum Einsatz, so ergeben sich Auswirkungen auf die Attraktivität des Unternehmens, das Interesse potenzieller Bewerber wird geweckt.
Zu den möglichen Gefahren zählen:
- Negativer Ruf: Wurden in der Vergangenheit Verfahren nicht adäquat ein- bzw. umgesetzt oder steht das Management nicht hinter den Maßnahmen, so können schlechte Erfahrungen zukünftige Initiativen hemmen und die Bereitschaft zur Teilnahme reduzieren.
- Fehlender Nutzen: Der Nutzen sollte aufgrund erheblicher Kosten und Zeitintensität klar erkennbar sein, die geplante Durchführung rechtzeitig und umfassend kommunikativ begleitet werden.
- Fehlendes Feedback: Das Zurückspielen von Ergebnissen im Rahmen eines klar definierten Feedbackprozesses ist ein Zeichen der Würdigung, aber auch zentral, um Lernfelder aufzuzeigen und Weiterentwicklung überhaupt zu ermöglichen.
- Testgläubigkeit: Wichtige Führungsentscheidungen sollten nicht nur an ein Analyseverfahren abgegeben bzw. delegiert werden.
Mittel-Zweck-Verwechslung: Das Ergebnis eines 360-Feedbacks oder eines Development-Centers sollte nicht als Bemessungsgrundlage für Bonuszahlungen oder als Alleinstellungsmerkmal für Besetzungsentscheidungen herangezogen werden.
Abschließend sei erwähnt, dass die gewonnenen Analyseergebnisse keine eindeutigen Vorhersagen ermöglichen, sondern Wahrscheinlichkeitsaussagen ergeben. Aus diesem Grund empfiehlt es sich, eingesetzte Verfahren regelmäßig zu wiederholen und begleitend zu evaluieren.