Die richtigen Mitarbeiter an der richtigen Position zu haben, ist für die meisten Firmen erfolgsentscheidend. Trotzdem sind viele Recruiting-Prozesse veraltet und auch das dahinterliegende Mindset scheint häufig noch nicht im Jahr 2019 angekommen zu sein.
Im gesamten HR-Umfeld kommt es derzeit unglaublich rasch zu Veränderungen. Ein Bereich sticht dabei besonders hervor, nämlich das Recruiting. Hier ist es kaum möglich, einen Überblick zu finden, welche neuen Tools, Start-ups oder andere Lösungen hervorbrechen. Die Rolle des Recruiters verändert sich: Durch den Fachkräftemangel ist in manchen Branchen ohne ›Active Sourcing‹ überhaupt kein qualifizierter Mitarbeiter mehr zu finden. Die Zeit, da sich Recruiter zurücklehnten und Bewerbungsunterlagen sortierten, ist lange vorbei. Chat-Bots, Künstliche Intelligenz oder Recruiting-Events gehören zum Alltag.
TRAiNiNG hat bei denjenigen nachgefragt, die wirklich wissen, was sich im Recruiting zur Zeit abspielt:
Wie sieht modernes Recruiting im Jahr 2019 aus?
Karl Kaiblinger (Geschäftsführer kaiblinger + partner) wünscht sich, dass Recruiter wieder mehr Zeit für das Wesentliche haben: »Früher wurden Bewerbungsprozesse teilweise absichtlich aufwändig gestaltet, um von Anfang an Bewerber auszusortieren, die es nicht richtig ernst meinen. Komplizierte Formulare, Mehrfacheingabe von Daten, offene Fragestellungen in kleinen Textboxen beantworten zu müssen usw. Diese Zeiten sind definitiv vorbei. Modernes Recruiting soll es allen Beteiligten vereinfachen, die richtige Person für einen Job zu finden. Gestaltet sich der erste Kontakt mit einem Unternehmen mühsam, lässt der Kandidat seine Bewerbung bald bleiben, denn dieser Umstand motiviert ihn nicht, er schreckt ab. Auch für Personalabteilungen muss modernes Recruiting zur Vereinfachung des Prozesses beitragen. Administrative Tätigkeiten durch intelligente, digitale Lösungen zu reduzieren, schafft wieder Zeit für Recruiter, sich um die wichtigen Dinge zu kümmern: Wen suche ich konkret, wo/wie kann ich diese Person erreichen und was könnten die Erwartungen dieser Person sein? Damit lässt sich eine Strategie erarbeiten, mit der man das eigene Unternehmen möglichst attraktiv darstellen kann, um den Bewerber letztendlich überzeugen zu können. Und wenn Sie jetzt denken ›Nicht ich muss mich als Unternehmen gut darstellen, sondern die Bewerber sollen froh sein, wenn sie für mich arbeiten dürfen‹, dann werden Sie in naher Zukunft ein Problem haben.«
Recruiting besteht aus vielen kleinen einzelnen Schritten, die in Summe eine Gesamtstrategie bilden sollten. Bevor man irgendetwas unternimmt, muss man überlegen, wer denn die eigentliche Zielgruppe ist. Manche Unternehmen erstellen dazu eine sogenannte »Persona«. Personas sind Modelle, die die Zielperson genau charakterisieren. So bekommt die Zielgruppe ein Gesicht und häufig auch einen Namen.
Erst danach kann man eine vernünftige Employer-Branding-Kampagne starten.
Überlegen sollte man in einem weiteren Schritt die Candidate Journey, also das Erlebnis des Bewerbers von Anfang bis Ende des Prozesses.
Erst wenn eine Gesamt-Recruiting-Strategie vorliegt, sollte man mit konkreten ersten Schritten beginnen.
Rudi Bauer (Geschäftsführer StepStone Österreich) hält Employer Branding heute für unumgänglich: »Modernes Recruiting beginnt damit, sich mit seiner Arbeitgebermarke ehrlich auseinanderzusetzen und sie für potenzielle Mitarbeiter sichtbar zu machen. Denn aus dem jahrzehntelangen Arbeitgebermarkt ist inzwischen ein starker Arbeitnehmermarkt geworden. Überspitzt formuliert heißt das: Nicht die Kandidaten bewerben sich ausschließlich bei den Unternehmen, sondern auch die Arbeitgeber bewerben sich bei den Fachkräften. In Zeiten des Fachkräftemangels wissen topqualifizierte Bewerber um ihre gute Ausgangslage. Unternehmen, die passende Mitarbeiter gewinnen wollen, sollten Fachkräften also auf Augenhöhe begegnen und auch mit offenen Karten spielen. Unternehmen müssen ehrlich mit Stärken und Schwächen als Arbeitgeber umgehen – Stichwort cultural fit. Die beste Fachkraft wird dem Unternehmen nicht lange erhalten bleiben, wenn Versprochenes nicht der Realität entspricht und die kulturelle Passung nicht stimmt.«
Wenn einmal eine Strategie steht, gilt es diese auszuprobieren, den Erfolg zu messen, und gegebenenfalls anzupassen. Und das regelmäßig. Denn die Anforderungen können schon nach einem Jahr völlig andere sein. Regelmäßiges Evaluieren des Recruiting-Erfolges gehört daher zu den Aufgaben der Recruiter. Und es gilt, stets flexibel zu bleiben!
Thomas Olbrich (Chief Culture Officer bei karriere.at): »Modernes Recruiting bedeutet immer, flexibel zu sein und sich auf die Veränderungen in der Umwelt einzustellen und natürlich – fast noch wichtiger – auf die Menschen und ihre Bedürfnisse einzugehen. Dazu gehört auch das Beobachten und gegebenenfalls Adaptieren von neuen Arbeits- sowie Sichtweisen.«
Was sind Trends, die Sie erkennen? Was gibt es schon? Was wird noch kommen? Welche Zukunftsideen gibt es?
Thomas Olbrich geht ganz konkret auf die wichtigsten Punkte für 2019 ein: »Erfahrene Personaler werden feststellen, dass das neue Jahr HR-technisch wenig Neues bringt, es aber dringenden Handlungsbedarf in den wirklich wichtigen Gebieten gibt. Unumgänglich in 2019: Employer Branding, Flexibilität und Automatisierung. In folgenden Bereichen sehen wir konkrete Schwerpunkte:
- Work-Life-Integration: 2019 wird das Thema ›Wohlbefinden bei der Arbeit‹ noch wichtiger werden. Denn der Workload steigt in vielen Branchen stärker als die Menge an qualifizierten Arbeitskräften. Stress und Überforderung sind die Folge. HR-Verantwortliche sind hier besonders gefordert, um mit größtmöglicher Flexibilität auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter einzugehen. Flexible Arbeitszeitmodelle, mobile Arbeitsplätze und gesundheitsfördernde Benefits sollten auf den Prioritäten-Listen der Personaler ganz oben stehen. Wer seinen Mitarbeitern zudem erlaubt, Arbeitszeit und -ort selbstständig im Team zu organisieren, wird mit höherer Motivation und besserer Leistung belohnt.
- Automatisierung: Von Industrie 4.0 zu Robot Recruiting: Die Arbeitswelt der Zukunft ist größtenteils digital. Eine der wichtigsten Aufgaben im Personalbereich ist daher, die bestehenden und künftigen Arbeitsplätze auf benötigte digitale Kenntnisse und Fähigkeiten vorzubereiten. HR-Verantwortliche müssen sich gemeinsam mit den Fachverantwortlichen über die Möglichkeiten der fortschreitenden Digitalisierung für das eigene Unternehmen klar werden. Für den eigenen Kompetenzbereich wird ›Robot Recruiting‹, also der Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Personalsuche, 2019 eine stärkere Rolle spielen. Experten sind sich einig, dass Chatbots und Co. aber eher administrative Aufgaben wie Terminvereinbarung übernehmen werden, um Recruiter für die wichtigen Dinge freizuspielen.
- Unternehmenskultur: Trotz Fachkräftemangels sollten sich Recruiter ihre Bewerber genau ansehen. Denn umgekehrt stehen auch Arbeitgeber stark auf dem Prüfstand. Dabei spielt die Art und Weise, wie in einem Unternehmen gearbeitet, kommuniziert und entschieden wird, eine große Rolle. Personaler sollten sich über die eigene Unternehmenskultur also genau im Klaren sein, um die richtigen Mitarbeiter zu finden. Denn hat man, frei nach dem Tinder-Prinzip, ein ›Match‹ in den entscheidenden Werten und Handlungsweisen, ist der Grundstein für eine langjährige Mitarbeiterbindung gelegt.
- Employer Branding: Das große Werben geht weiter. Um gleich mit einem Missverständnis aufzuräumen: Employer Branding ist nicht dasselbe wie Unternehmenskultur. Letztgenannte fließt als übergeordneter Werte- und Handlungsrahmen idealerweise ins Employer Branding mit ein. Wie man sich als Arbeitgeber präsentiert, sollte nämlich vor allem eines sein: aufrichtig. Stimmt die Arbeitgebermarke nicht mit der Realität überein, sind die gewonnenen neuen Mitarbeiter nämlich schnell wieder weg – und teilen ihre Erfahrungen. Eine gut durchdachte Employer-Branding-Strategie beugt dem vor.
- Active Sourcing und Recruiting-Events: Wie die neue Candidate-Journey-Studie von karriere.at und Marketagent.com zeigt, sind nur 12 % aller Arbeitnehmer aktuell auf der Suche. Mehr als ein Drittel steht einem Jobwechsel jedoch offen gegenüber. Das bietet großes Potenzial, attraktive Kandidaten konkret anzusprechen. Eine Möglichkeit diese kennenzulernen, sind interaktive Recruiting-Events, bei denen Arbeitnehmer ihr Wissen und Können zeigen dürfen. Von Unternehmen organisierte Hackathons oder Recruiting-Speed-Datings bieten dafür einen guten Rahmen.«
Der Bewerbungsprozess sollte für die Kandidaten verständlich sein und möglichst zeiteffizient ablaufen. Niemand will nach der ersten automatisierten Empfangs-Bestätigung 4 Wochen oder länger auf Antwort warten. Zwischenberichte, damit der Bewerber weiß, woran er ist, sind hilfreich. Auch das Bewerben an sich muss rasch und einfach gehen, wie Rudi Bauer weiß: »Trotz zunehmender Digitalisierung sind Bewerbungsprozesse immer noch zu aufwändig und langwierig. Viele Bewerber müssen wochenlang auf eine Rückmeldung warten. Ein wichtiger Schritt hin zu einem vereinfachten Recruiting ist das Abschaffen des Anschreibens, das viele Unternehmen bereits etabliert haben. Personalentscheider schauen ohnehin in erster Linie auf den Lebenslauf, dem Herzstück der Bewerbung. Die Eyetracking Studie von Stepstone unter Personalisten hat gezeigt, dass mehr als zwei Drittel (68 %) des Gewichts der Bewerbung der Lebenslauf ausmacht. Demgegenüber ist nicht einmal jedem Vierten das Motivationsschreiben wichtig. Innovatives Recruiting wird sich in Zukunft dadurch auszeichnen, dass Bewerber per Smartphone mit nur einem Click ihre Bewerbung – also ihren Lebenslauf – versenden können. Der Großteil aller Jobsuchenden nutzt das Smartphone, um nach neuen Jobs zu suchen. Es wird also darum gehen, mithilfe technischer Lösungen das Abschicken von Bewerbungen stark zu vereinfachen, gleichzeitig die Qualität der Bewerbungen aber weiterhin hoch zu halten. Dazu gehört auch die Möglichkeit, als Kandidat direkt mit Recruitern Kontakt aufzunehmen – zum Beispiel über einen Messenger. Ein weiterer Trend, den wir erkennen ist, dass der Jobtitel als zentrales Suchkriterium weniger wichtig wird. Jobsuchende schauen vermehrt nach bestimmten Skills oder nach Aspekten wie beispielsweise Work-Life-Balance, die ein potenzieller Arbeitgeber zu bieten hat. Dies bedeutet, dass Unternehmen diese Informationen auch zur Verfügung stellen und Jobbörsen eine kandidatenfokussierte Suche ermöglichen müssen.«
Auch die Künstliche Intelligenz hält Einzug ins Recruiting – wenn auch sehr langsam. Die Möglichkeiten der Zukunft können wir uns hier kaum ausmalen.
Karl Kaiblinger wagt dennoch einen Blick in die Zukunft: »Die Möglichkeiten des Einsatzes von Künstlicher Intelligenz entwickeln sich ständig weiter und bieten aus meiner Sicht das größte Potenzial für 2019 und auch darüber hinaus. Die Einsatzgebiete scheinen grenzenlos. Wer weiß, vielleicht bewirbt man sich in einigen Jahren gar nicht mehr auf bestimmte Positionen im Unternehmen, sondern wird auf Basis objektiver Daten automatisch der passendsten Position zugewiesen. Aber auf Basis welcher Kriterien soll dies festgestellt werden? Ich denke, das ist eine zentrale Frage, die man nicht unterschätzen darf. Denn wer ist nun besser für einen Job geeignet: Der jüngere Herr mit wenig Berufserfahrung oder die ältere Frau mit umfassenden Branchenkenntnissen? Die Wahrheit ist, keines dieser Merkmale hat irgendeine Relevanz. Und dennoch lassen wir uns davon beeinflussen. Objektive Entscheidungskriterien werden in Zukunft an Bedeutung gewinnen, nicht nur um Diskriminierung durch Berücksichtigung von Geschlecht, Herkunft, Alter usw. zu unterbinden, sondern auch weil sie keinen prognostischen Wert für die zukünftige Leistung haben. Wenn die Treffsicherheit in der Personalauswahl steigen soll, kommt man an technologischer Unterstützung und objektiver Entscheidungsempfehlungen nicht vorbei. Je früher man sich mit den Möglichkeiten auseinandersetzt, desto eher kann man auch von diesen Informationen profitieren und eine sinnvolle Implementierung im Unternehmen mitgestalten.«
Wenn Sie ein modernes Auto in die Werkstatt führen, wird das Auto heutzutage an einen Computer angeschlossen und der Mechaniker bekommt eine klare Diagnose, wo der Fehler liegt. Er weiß also, was dahinter steckt. Er könnte auch dreimal um den Häuserblock fahren und eine Verdachtsdiagnose erstellen. Ähnlich verhält es sich im Vergleich mit subjektiven Bewerbungsgesprächen zu objektiven Daten.
Was geht 2019 gar nicht mehr?
Wenn ein Kandidat nach einem Bewerbungsprozess, egal ob er eingestellt wurde oder nicht, ein negatives Gefühl hat, ist das ungünstig. Automatisch überträgt er das Gefühl auf das ganze Unternehmen und wendet sich vielleicht als Kunde ab, bzw. rät Freunden und Bekannten, sich dort nicht zu bewerben.
Rudi Bauer: »Arbeitgeber, die Bewerbern relevante Informationen zum Unternehmen vorenthalten oder Kandidaten keine Rückmeldung geben, haben es zunehmend schwer. Die Entscheidung für oder gegen einen Job zählt zu den wichtigsten Entscheidungen im Leben eines Menschen. Fachkräfte wollen daher direkt alle relevanten Informationen über ihren potenziellen Arbeitgeber auf einen Blick vorfinden und sich beim Annehmen eines Jobs nicht auf ein ›Blind Date‹ einlassen: Welche Werte werden in einem Unternehmen groß geschrieben? Wie sieht die Unternehmenskultur aus? Welche Entwicklungsmöglichkeiten und Benefits gibt es? Diesen Einblick wünschen sich Fachkräfte schon vor dem Arbeitsbeginn – viel mehr ist er neben Gehalt und dem grundsätzlich passenden Jobangebot schon wesentlicher Entscheidungsfaktor für oder gegen ein Unternehmen.«
Karl Kaiblinger: »Wer 2019 immer noch 08/15 Stellenausschreibungen veröffentlicht, bei denen potenzielle Bewerber nicht verstehen, wer oder was genau gesucht wird, dem helfen auch innovative Recruiting-Konzepte nicht weiter. Durch möglichst ›barrierefreie‹ Bewerbungsmöglichkeiten eine große Anzahl an Personen zu erreichen, bringt nichts, wenn die Bewerber eine falsche Vorstellung von der ausgeschriebenen Stelle haben. Häufig habe ich schon erlebt, dass sich Bewerber nach dem Ausscheiden aus einem mehrstufigen Recruiting-Prozess frustriert denken: ›Hätte man mir das von Anfang an gesagt, hätten wir uns alle viel Zeit erspart.‹«
Thomas Olbrich gibt einen abschließenden Tipp an Recruiter: »Bleiben Sie offen gegenüber Veränderungen, fragen Sie direkt in der Zielgruppe nach, was gewünscht ist. Das Um und Auf heißt jedenfalls ›Flexibilität‹.«
Und – am Ball bleiben! Gehen Sie zu Events, lesen Sie, was Start-ups alles anbieten und sprechen Sie mit Branchenkollegen über Best-Practice-Beispiele. Jedes Unternehmen bekommt die Kandidaten, die es verdient. Und vice versa bekommt jeder Kandidat das Unternehmen, das er verdient.