Der Trend aus der Vergangenheit

Storytelling liegt voll im Trend: beim Präsentieren, beim Vortragen, bei Produktvorstellungen und auch im Verkauf. Dieser Artikel will aufzeigen, was eine gute Geschichte ausmacht und wie man zu einer solchen kommt.

Einerseits ist es sehr schön, dass Storytelling gerade im Trend liegt. Andererseits ist es ein bisschen seltsam, das Erzählen von Geschichten als Trend zu bezeichnen. Denn es gibt wohl nur sehr wenig in der Menschheitsgeschichte, das dermaßen zeitlos ist. Das Erzählen und Weitererzählen von Geschichten ist ein wesentlicher Bestandteil des Mensch-Seins. Mit den Geschichten haben sich Sprachen entwickelt, und mit den Sprachen die Geschichten. Manche von ihnen überdauern Jahrhunderte oder gar Jahrtausende. Die schriftliche Überlieferung von Geschichten ist erst seit wenigen Tausend Jahren möglich, davor wurden sie mündlich weitererzählt, von Generation zu Generation, und haben so ganze Kulturen und Religionen beeinflusst, definiert oder überhaupt erschaffen. Die ältesten heute bekannten Höhlen­malereien sind 30 000 bis 40 000 Jahre alt, sie zeigen Tiere – und Geschichten. Wir wissen recht wenig über das Leben der Menschen aus dieser Zeit, aber dass sie einander Geschichten »erzählten«, das wissen wir.
Waterhouse_decameronDas Decamarone von Giovanni Boccaccio ist eine Sammlung von 100 Novellen, die innerhalb einer Rahmengeschichte erzählt werden. Von manchen dieser Geschichten könnte man glauben, sie spielten im Heute. Selbstverständlich kommen keine Autos oder Smartphones vor, aber das sind ja auch heute nur die Vehikel für Wichtiges und nicht das Wichtige selbst. Es geht um Liebe, Macht, Geld, Fortpflanzung, Gesundheit, Tod; die Novellen handeln von Reichen und Armen, von bösen und guten Menschen, von treuen Menschen und Verrätern. Bei manchen Geschichten kann und will man gar nicht glauben, wie alt sie sind: Das Werk stammt ziemlich genau aus dem Jahr 1350! Die darin erzählten Geschichten sind aber allesamt älter – manche von ihnen vermutlich weit mehr als doppelt so alt –, denn Boccaccio hat sie nicht erfunden, sondern nacherzählt und angepasst.
Man verliert ein bisschen den Glauben an den Fortschritt der Menschheit bzw. der Gesellschaft, wenn man diese Erzählungen liest, denn man erkennt: Es geht darin um dieselben Dinge wie heute. Und es geht nach wie vor um das Erzählen von Geschichten. Und daran wird sich sobald auch nichts ändern.
So gesehen ist es sicher eine gute Idee, in der Kommunikation – im Beruf, aber natürlich auch privat – auf Geschichten zurückzugreifen und sich ihre Wirkungsmacht zunutze zu machen. Allerdings ist es ein Irrglaube, es reiche aus, einfach eine Geschichte zu erzählen. Es sollte schon eine gute und vor allem zum jeweiligen Thema bzw. Zweck passende Geschichte sein.

Wir wollen für diesen Artikel von drei Storytelling-Experten wissen, wie man zu einer solchen kommt und beginnen mit folgender Frage:

Was unterscheidet in Vorträgen, Seminaren und Präsentationen eine gute von einer schlechten Geschichte?

Schien Ninan (Creative Director und Gesellschafter von HPS Training) rückt die Kommunikationsziele in den Vordergrund: »Der Worst-Case – und leider auch ein häufiger Fall – ist eine Story, die nicht zur Vermittlung der Kernbotschaft beiträgt. Eine Story, um der Story wegen – nett, aber letztlich nur ›Larifari‹. Dann merkt sich die Zielgruppe zwar die Story, nicht aber das, was der Vortragende eigentlich vermitteln will. Die wahre Kunst ist es, eine spannende Story zu erzählen, die konkrete Kommunikationsziele für Business-Themen umsetzt.«

Monika Herbstrith-Lappe (Geschäftsführerin Impuls & Wirkung) sieht das ganz ähnlich und erklärt etwas ausführlicher: »Nach Bertolt Brecht besteht jede Geschichte aus einem Thema und einer Fabel. Das Thema ist die Antwort auf die Frage: Worum geht es? Die zentrale Botschaft der Geschichte ist das, wozu man Menschen inspirieren und bestärken, berühren und bewegen möchte. Die Fabel hingegen ist die Handlung der Geschichte. Die Antwort auf die Frage: Was geschieht? Je klarer das Thema der Geschichte zu der Zielsetzung beiträgt, desto besser funktioniert die Geschichte. Storytelling, am besten ordentlich mit Humor gewürzt, ist die Verpackung für Inhalt und Kompetenz – kein Ersatz dafür. Völlig kontraproduktiv wäre eine Ablenkung von der eigentlichen Botschaft des Trainings oder des Vortrags.«

Martin Frohn (Geschäftsführer AVL Institut) unterscheidet zwischen guten und schlechten Geschichten wie folgt: »Eine gute Geschichte hilft einerseits, einen Sachverhalt in Form einer Analogie so zu verpacken, dass diese beim Adressaten besser verstanden und vor allem nachhaltig gemerkt wird. Und andererseits hilft sie einem Menschen, einen Ratschlag (oder Ratschläge) zu befolgen, weil er sich z. B. mit der Hauptfigur identifizieren kann. Und die schlechte Geschichte langweilt und provoziert gerade mal ein müdes Lächeln. Eine gute Geschichte löst beim Zuhörer einen ›Film‹ aus und wird somit besser verstanden und gemerkt. Er soll sich in diesen Film mit hineinversetzt fühlen! Eine gute Geschichte wirkt nie ›oberlehrerhaft‹ oder belehrend. Wenn sie das tut, ist sie eine schlechte Geschichte.«

Wir wollen es genauer wissen und fragen nach:

Was sind die Kriterien für eine gute Geschichte?

Martin Frohn zählt auf:

  • Die Teilnehmer sollen sich mit der Situation oder der Person in der Geschichte identifizieren können.
  • Es sollen Emotionen (Angst, Freude, Glück, Verwirrung, Erleichterung, …) angesprochen werden.
  • Die Geschichte soll unterhaltsam sein und die Zuhörer zum Schmunzeln (am besten zum Lachen) bringen.
  • Es soll eine überraschende Wendung dabei sein.
  • Es soll ein Problem/eine Alltagssituation aus den Augen des Betrachters gelöst/behandelt werden!
  • Der Zuhörer soll für sich 1 und 1 zusammenzählen und den persönlichen Nutzen für sich erkennen können.

Monika Herbstrith-Lappe ergänzt:

  • Vertrauensbasis schaffen, damit sich das Publikum auf die Geschichte einlassen kann.
    Auf die Erfahrungswelt des Publikums achten. Der Rahmen, in dem die Geschichte handelt, sollte für die Menschen nachvollziehbar sein.
  • Fachliche Korrektheit.
  • Je authentischer desto besser: Besonders gut funktionieren Geschichten, die man selbst erlebt hat.
  • Sich selbst zeigen: Mit meinen eigenen Geschichten mache ich mich greifbar – und das Publikum kann Vertrauen fassen.
  • Spiel mit Erwartungen. Neugierde und Spannung entstehen durch Vorenthalten von Informationen. Wir wollen wissen, wie es weiter geht.
  • Spannung braucht Widerstand. Storytelling in einem Satz zusammengefasst: Jemand will etwas unbedingt erreichen und stößt dabei auf Hindernisse. Geschichten leben von einer entscheidenden Herausforderung und/oder einem zentralen Konflikt.
  • Nur Präsens erzeugt Präsenz. Erleben Sie JETZT die Geschichte und erzählen Sie dann, was sie jetzt erleben!

Schien Ninan kehrt bei der Antwort auf die Frage nach den Kriterien einer guten Geschichte zum Zweck der Geschichte zurück und fasst kurz zusammen:

  • Sie trägt entscheidend zur Vermittlung der Kernbotschaft bei.
  • Sie aktiviert die Zuhörer auf einer Ebene, wie es Zahlen, Daten und Fakten nicht können.
  • Sie ist merkbar und weitererzählbar.

Jetzt wissen wir, was eine gute Geschichte ausmacht, aber woher nimmt man eine solche? Einiges geht ja schon aus den bisherigen Antworten hervor: Eine selbst erlebte sollte es sein, die man authentisch erzählen kann und die etwas mit der Kernaussage des Vortrags oder der Präsentation zu tun hat. Aber das ist wohl in den meisten Fällen leichter gesagt als getan. Daher:

Woher nimmt man eine gute Geschichte?

Schien Ninan kennt ein Werkzeug: »Die wenigsten Führungskräfte sind geborene Storyteller. Ihnen fällt es nicht leicht, starke Storys für Business-Themen zu formulieren. Anstatt sich stundenlang kreativ etwas Mittelmäßiges aus dem Finger zu saugen, empfehlen wir daher den Einsatz von professionellen Storyboards. Das sind Vorlagen, die für den Business-Einsatz konzipiert wurden und jedem dabei helfen, rasch den roten Faden einer Story zu entwickeln. Aus langjähriger Erfahrung wissen wir: Darauf aufbauend fällt es leicht, die eigene Story zu individualisieren und anzupassen.«

Monika Herbstrith-Lappe plädiert dafür, Geschichten aus dem eigenen Leben heranzuziehen: »In meinen Storytelling-Trainings empfehle ich den Teilnehmenden, dass sie Episoden im Alltag sammeln sollen. Damit schaffen sie sich einen Fundus, aus dem sie schöpfen können. Neben dem beruflichen und familiären Umfeld eignen sich besonders auch Freizeitaktivitäten als Quelle für spannende Geschichten, die Menschen inspirieren und bewegen.«

Martin Frohn empfiehlt beides und erläutert ausführlich: »In den Grundzügen gibt es zwei Arten von Geschichten: Erstens die ›Erfahrungsgeschichten‹: Das sind die Geschichten, die das Leben erzählt und die man im Optimalfall selbst erlebt hat. Vorteil dabei ist, dass man diese sehr authentisch erzählen kann. Außerdem kann man natürlich Menschen nach Geschichten aus ihren Unternehmen fragen, auch das ist eine wunderbare Quelle für authentische Geschichten. Denn die Erlebnisse der Menschen – Mitarbeiter wie Kunden – mit Marken, Unternehmen, Produkten und Menschen sind immer spannend und sehr unterhaltsam.
Und zweitens die ›konzipierte Geschichte‹: Das klingt jetzt ein wenig nach erfunden, ist es aber nicht. Man bedient sich dabei professioneller Techniken des Storytellings, wie z. B. der ›Heldenreise‹ und konzipiert eine Story zu einem definierten Thema. Solche Geschichten werden dann oft im Marketing und in der Unternehmenskommunikation verwendet.«

Und natürlich kann man sich auch der Geschichten aus der Literatur bedienen. Das zu Beginn erwähnte Decamerone gilt gemeinsam mit Dantes Göttliche Komödie als Wiege der abendländischen Literatur, sehr viele Geschichten in unserem Kulturkreis lassen sich darauf zurückführen. Bei Interesse empfiehlt sich eine kommentierte Ausgabe. Die Anmerkungen sind fast so lange wie die Novellen selbst und sehr aufschlussreich. So erfährt man z. B., dass das Landhaus in der Nähe von Florenz, in dem die Rahmengeschichte im 14. Jahrhundert spielt, tatsächlich existiert hat. Und das Besondere: Es steht immer noch! Das ist in sich selbst eine Geschichte.
Wer es gerne moderner hat – was den Erzählstil betrifft, nicht die Themen – greife z. B. zu Jorge Bucay: Komm, ich erzähl dir eine Geschichte.

Abschließend haben wir noch eine Bitte an die Storytelling-Experten:

Können Sie uns ein Beispiel nennen, das aufzeigt, wie das Element des Geschichten-Erzählens zum Erfolg beigetragen hat?

Schien Ninan bringt eines aus der jüngeren Vergangenheit der USA: »Es muss nicht jeder gleich ein John F. Kennedy sein. Doch so wie er es mit seiner Rede geschafft hat, eine ganze Nation auf das Projekt Mondlandung einzuschwören – ›We will put a man on the moon and return him safely to the Earth‹ –, so können auch Führungskräfte es schaffen, ihre Mitarbeiter mit gutem Storytelling für ihr Anliegen zu motivieren.«

Martin Frohn erzählt von seinem Erlebnis mit einem Teppichhändler in Istanbul. Für die komplette Geschichte ist hier leider nicht ausreichend Platz, aber kurz zusammengefasst: Istanbul, Blaue Moschee, sympathischer Türke spricht ihn und seine Frau auf Deutsch an, es folgt eine ca. einstündige, sehr gute Stadtführung mit einigen Highlights, danach die Einladung zu Kaffee und Apfeltee, die sie nicht abschlagen können (Reziprozität!). Plötzlich sitzen sie in einem Teppichgeschäft einem »Großmeister des Verkaufens« gegenüber. Auf alle Einwände (Transport, Zoll, Größe, gar kein Bedarf) hat dieser die passenden Antworten und so sieht sich der Erzähler schon die Kreditkarte zücken. Ob und wie er dieses Geschäft ohne Teppich verlassen hat, sei hier nicht verraten. Es ist eine wirklich gute Geschichte, man sollte sie sich von Martin Frohn erzählen lassen. Das Besondere: Er verknüpft sie mit den Kernaussagen seines Verkaufstrainings: Tu einem Kunden im Vorfeld viel Gutes, stelle viele Fragen usw. Er bringt auch ein anderes Beispiel, das sich für Führungskräftetrainings eignet und sagt abschließend: »Ein guter Business-Geschichtenerzähler hat für viele Fälle eine Geschichte parat.«

Das gilt auch für Monika Herbstrith-Lappe. Wer sie nach einem Beispiel für eine gute Geschichte fragt, bringt sie damit in einen besonderen Modus, es sprudelt nur so aus ihr heraus. Sie erzählt von einer Geschichte über die Standardabweichung Sigma, die sich so eingeprägt hat, dass sie ihr noch 30 Jahre später von den damaligen Teilnehmern als Erinnerung geschildert wird; oder darüber, wie sie mit einem Foto einer idyllischen Malediven-Insel Tipps fürs Steigern der Akzeptanz von IT-Security geben konnte; oder davon, wie ein Mann aus dem 10. Stock springt und noch nach 8 Stockwerken freien Falls sich über die Risikomanager lustig macht, die sich offensichtlich in ihrer Einschätzung geirrt hätten – schließlich gehe es ihm gut; oder davon, wie die Sichtweise von Theaterschauspielern die Einstellung im Konfliktmanagement verändern kann; und wie die seinerzeitige sinnliche Geschichte der Physik von Nudelsuppen in einem Beitrag zur Green Architecture gemündet ist – und noch von einigen weiteren Erfolgsgeschichten des Storytelling.

Fazit
Richtig angewandt, gelingt es mit der Methode Storytelling, Inhalte so zu kommunizieren, dass sie nachhaltig die gewünschte Wirkung erzielen. Eine eingehende Beschäftigung damit zahlt sich also auf jeden Fall aus. Nutzen Sie die zeitlose Kraft des Geschichte-Erzählens!

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