Die eierlegende Wollmilchsau?

Follow-Modus, Attention-Management, Mini-Map, Select-Werkzeug … haben Sie davon schon einmal gehört? – Willkommen in der bunten Welt der Online-Whiteboards.

Anbieter wie Conceptboard, Mural oder Miro erfuhren in den letzten 12 Monaten einen enormen Zulauf an neuen Usern. Sie bieten, wie viele andere auch, sogenannte Online-Whiteboards an. Dabei handelt es sich um Softwarelösungen, welche als Apps oder browserbasierte Tools zur Verfügung gestellt werden. Damit sollen vor allem Teams bei der virtuellen Zusammenarbeit über Entfernungen hinweg unterstützt werden – und zwar in Echtzeit. Das scheint eine tolle Sache in Zeiten des Online-Zusammen-Arbeitens zu sein. Ich selbst habe vor 18 Monaten intensiv damit zu arbeiten begonnen und stellte seither fest: Ja – dieses Tool kann mir virtuelle »Superkräfte« verleihen und – nein, es macht mich nicht unverwundbar und der »Schuss« kann schnell nach hinten losgehen.
Ich erinnere mich noch genau, als ich das erste Mal mit der Benutzeroberfläche (dem sogenannten »Board«) eines facettenreichen Online-Whiteboards konfrontiert worden bin. Es war überwältigend! – Leider im negativen Sinn.
Ich bin dem klassischen Anfängerfehler »der kostenfreien Testversion« aufgesessen: Schnell registrieren, dann ein wenig damit spielen um anschließend die Sache ruhen zu lassen und wenn es dann »ernst« wird, ist entweder der kostenfreie Zugang abgelaufen oder ich lande nochmals bei meinem ersten »Versuchs-Board«, um erneut festzustellen, dass ich damals den Spaß daran verloren hatte. Das besiegelt dann das endgültige Aus in der Anwendung eines neuen Tools.
Mein Glück war aber, dass ich beim zweiten Anlauf nicht allein war, sondern mit einem Kollegen aus der Beratungsbranche. Und anstatt eine negative Problem-Abwärts-Schleife in Gang zu setzen, haben wir uns gegenseitig in der Trial-and-Error-Phase beflügelt und waren immer mehr, ob der Vielfalt an Anwendungsmöglichkeiten, begeistert! Ja – so funktioniert Inspiration und Lösungsfokus.
Wir haben uns Schritt für Schritt mit den Funktionen auseinander gesetzt und bei Hürden in den Community-Foren bzw. beim Helpdesk des Anbieters nach Lösungen gesucht. Learning by doing. In den zahlreichen Anwender-Videos hatten wir immer das Problem, dass Funktionen genauestens erklärt werden – auf die praktische Anwendung jedoch gar nicht oder jenseits unserer Arbeitswelt eingegangen wird. D. h., letzten Endes war es für uns wichtig, die ersten Schritte in echten Workshops mit Kunden zu gehen. Ein internationaler Stammkunde war schließlich bereit, sich auf das Experiment einzulassen. Es handelte sich um einen dreitägigen Strategie-Workshop für ein Unternehmen aus der Golfregion – vollständig im Remote-Modus und ausschließlich mit MS-Teams und Miro. Insgesamt waren 3 Länder, 5 Standorte und 10 Personen mit 7 Nationalitäten involviert. Und – das Ergebnis war mehr als zufriedenstellend. Die Teilnehmer, wie auch wir selbst, konnten einiges lernen. Kürzlich haben wir nochmals nachgefragt, inwiefern die gemeinsame Erfahrung nachwirkt. Und, siehe da: Das Team ist komplett auf diese Form der Remote-Arbeit umgestiegen. Die Sache läuft!

Konkrete Learnings

Hier ein paar unserer Erkenntnisse in beliebiger Reihenfolge:

  • Mit der Einführung auf das Board steht und fällt die Motivation zur Mitarbeit (synchron wie auch asynchron). Dafür muss unbedingt genügend Zeit eingeplant werden – am besten spielerisch und wenn möglich, auch schon im Vorfeld z.B. ein kurzes Einführungsvideo versenden.
  • Eine Doppelmoderation hat Vorteile (am besten konzentriert sich ein Moderator auf den technischen Teil und einer auf den didaktischen bzw. Prozess begleitenden Teil). Mittlerweile arbeite ich auch viel alleine – mit der Erfahrung kam auch die Sicherheit.
  • Didaktik bzw. Methodenkompetenz schlägt Funktionen (weniger ist gerade am Anfang mehr – auch wenn die Tools viel können, sollte doch das Ziel der Veranstaltung immer im Vordergrund stehen bleiben).
  • Technikcheck! (In Abstimmung mit dem Kunden, aber auch vor jedem Live-Termin.)
  • Wird in einer Videokonferenz vom Moderator der Bildschirm geteilt, um die Teilnehmer auf das Board einzustimmen bzw. etwas zu präsentieren, dann immer das Bildschirmteilen auch wieder beenden. Ansonsten beginnen die Teilnehmer auf den geteilten Bildschirm zu klicken und wundern sich, dass nichts mehr funktioniert (eine der häufigsten Fehlerquellen).
  • Die Einführung darf nicht in eine Einschulung des Boards ausarten. Spätestens nach 15 Minuten sollten die Teilnehmer selbst etwas am Board ausprobieren dürfen.
  • Ein achtsamer Umgang ist das A und O. »­Board-Bullies« sollten schnell identifiziert und zur Räson gebracht werden (dafür gibt es wunderbare Übungen zur Selbstreflexion).
  • Zu Beginn abfragen, wer mit welchem Gerät bzw. auf welchem Betriebssystem teilnimmt und welche Browser genutzt werden (da gibt es Unterschiede in der Kompatibilität und Stabilität). Idealerweise auch gleich Personen identifizieren, welche bereits mehr Erfahrungen sammeln konnten (die werden bei den Gruppenübungen z. B. dann gezielt auf die Gruppen aufgeteilt).

Mir ist es an dieser Stelle ein Anliegen, darauf hinzuweisen, dass Remote-Arbeit bzw. co-kreative Formate nicht die einzigen Anwendungsfelder für Online-Whiteboards sind. Ich selbst setze sie mittlerweile für Präsentationen, zur Selbstorganisation bzw. Vorbereitung von Veranstaltungen bis hin zur Protokollierung bzw. Ergebnissicherung ein. Und das Ganze sowohl online wie auch in Präsenz. Die Ideen dazu kommen sozusagen mit der gesammelten Erfahrung. D. h., um die notwendige Sicherheit im Umgang mit dem jeweiligen Tool im Live-Event (Veranstaltung, Beratung, Coaching, Meeting etc.) zu haben, setze ich es soviel wie möglich auch unabhängig davon ein. Bei mir wird mittlerweile nahezu jedes Projekt und auch jeder Termin auf einem Online-Whiteboard abgebildet – häufig wird das Board dann mit dem betreffenden Kunden geteilt.

Die Erfahrung zeigt hier auch, dass die Schnittstelle zwischen Auftraggeber und -nehmer  besonders wichtig ist. Beispielsweise werden Online-Whiteboards derzeit bei Live-online-Events noch meistens in der Kombination mit einem Video-Konferenz-Tool genutzt. Gerade wenn auch in kleineren Gruppen (z. B. in Break-out-Räumen) gearbeitet werden soll, sind User auf Video-Konferenz-Möglichkeiten angewiesen.
Es gibt jedoch bereits erste Anbieter am Markt, die eine Integration der jeweiligen Online-Whiteboard-Anwendung direkt ins Video-Conferencing-Tool realisiert haben. Das wird jedenfalls in naher Zukunft eine wichtige Weiterentwicklung darstellen, um das ständige Hin- und Herspringen zwischen verschiedenen geöffneten Anwendungsfenstern zu vermeiden (und damit mögliche Fehlerquellen auszuschalten). D. h., die Zukunft wird jenen Anbietern gehören, die auch Zeit und Geld in die Weiterentwicklung von plattformübergreifenden Schnittstellen investieren.

Aber auch sprachliche Barrieren können bei der Auswahl der Online-Whiteboard-Anwendung eine Rolle spielen. Die meisten Anbieter operieren derzeit noch völlig in englischer Sprache. Darunter kann dann die Benutzerfreundlichkeit der Oberfläche schnell leiden. Die großen Anbieter entwickeln ihre Anwendungen jedoch in rasantem Tempo weiter – und das erfreulicherweise in enger Abstimmung mit ihrer Community! Das Zusammenspiel der Anwender-Community und des Tool-Anbieters wird jedenfalls in Zukunft eine enorm wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, den Bedürfnissen des Marktes gerecht zu werden und sich damit entsprechende Marktanteile zu sichern. Für mich selbst ist dies das wichtigste Kriterium bei der Auswahl des Online-Whiteboards.

Fazit

Die – aus meiner Sicht – 5 wichtigsten Punkte für eine erfolgreiche Nutzung eines Online-Whiteboards sind:
1. Die Komplexität orientiert sich an den Teilnehmern. D. h., setzen Sie gerade so viele Funktionen ein wie notwendig!
2. Sehen hat Vorrang vor Hören. Zu jeder verbalen Beschreibung einer Aufgabe sollten Sie auch eine visuelle Erklärung geben (z. B. in Form einer schriftlichen Aufgabenbeschreibung).
3. Vertrauen Sie in die Entdecker-Freude der Teilnehmer. Schaffen Sie einen spielerischen Zugang zu den eingesetzten Funktionen und geben Sie den Teilnehmern Zeit, um zu experimentieren.
4. Nutzen Sie die Schwarmintelligenz der Gruppe. Schaffen Sie Möglichkeiten, damit sich Teilnehmer gegenseitig helfen können (z. B. mit Break-outs).
5. Seien Sie Moderator und Facilitator. Nutzen Sie die Möglichkeiten, die das Online-Whiteboard bietet. Steuern Sie die Dynamik ganz bewusst (z. B. Bearbeitungs-Rechte, Attentions-Management etc.).

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Karrer_Harald

Gastautor
Harald Karrer
ist Experte für wirkungsvolle Visualisierungen im Business- und Bildungsbereich.
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