Hyper-agil in die neue Normalität

Das Coronavirus verlangt Unternehmen derzeit viel ab. Wie wichtig es jetzt ist, agil aufgestellt zu sein, und welche 3 Hauptprinzipien agiler Führung es gibt, lesen Sie hier.

Covid-19 hat von uns ein bisher fast unvorstellbares Level an Anpassungsfähigkeit verlangt. Was gestern stimmte, ist heute nicht mehr wahr. Wir befinden uns in einer Art Kriegswirtschaft. Überleben ist für viele Organisationen Strategie. Taktik bedeutet oft, die Kosten mittels Kurzarbeit oder ähnlichen Staatshilfen mit Umsatzwiedergewinnung zu kombinieren. Der Schwerpunkt liegt im Operativen. Täglich bzw. wöchentlich werden Maßnahmen aufgrund sich laufend ändernder Informationen angepasst.
Passen da die Grundprinzipien und Werkzeuge agiler Führung noch? Im Disruptions-Surfer-Modell (siehe TRAiNiNG 6/19) haben wir die Hauptprinzipien und Tools agiler Führung beschrieben.
Allerdings entspricht Covid eher einem Tsunami und keiner normalen Disruptions-Welle. Das heißt, als Allererstes war es wichtig, sich, d. h. das Unternehmen und die Arbeitsplätze, in Sicherheit zu bringen. Das Meer bleibt eine Weile aufgewühlt und manche Unternehmen können die Chancen der nachfolgenden Veränderungswellen nutzen, wenn sie sehr schnell sind/waren.
In der Trainingsbranche waren das z. B. diejenigen Unternehmen, die umgehend virtuelle Schulungen zu krisenrelevanten Themen angeboten haben. Besonders im Vorteil waren natürlich diejenigen, die das vorher auch schon gemacht haben. Die Anmeldungen für manche Webinare und Online-Konferenzen sind durch die Decke gegangen.

Danach kehrt das Meer zu seinem üblichen Wellenrythmus zurück. Die Veränderungen gehen also in »normalerer Geschwindigkeit« weiter. Das betroffene Land dagegen ist verwüstet und braucht Schutz- und Aufbaumaßnahmen. Managementmethoden wie Safety-Management und Controlling treten in den Vordergrund: Die Gesundheit der Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten hat Vorrang. Liquiditätsmanagement, meist eine notwendige Nebensache, entscheidet über das Fortbestehen von Unternehmen.

Covid-Fassung der 3 Hauptprinzipien agiler Führung

1. Transparenz: Organisationen, die sich rasch und grundlegend verändern müssen, brauchen transparente Leistungskennzahlen, damit Mitarbeiter Unternehmenssteuerungs-Entscheidungen nachvollziehen und mitbeeinflussen können. Erhalt von Arbeitsplätzen mittels Kurzarbeit, Abbau von Arbeitsplätzen oder auch ruckartiges Wachstum und Aufbau neuer Geschäftsbereiche können Stress und Abwehrreaktionen auslösen. Wenn die Auswirkungen auf Umsatz, Gewinn und Gesundheit sichtbar und laufend beobachtbar sind, dann erhöht dies das Verständnis und kann ein energiegeladenes Zusammenrücken fördern. Kurzarbeit, Kredite oder andere Staatshilfen überbrücken für eine Weile Ausfälle, lösen aber langfristig das Problem nicht, wenn der Markt nie wieder so sein wird, wie vor Covid.
Wird ein weiterer Teil des Handels nach Covid im Internet bleiben, weil nun fast alle Kunden gezwungen waren, online zu bestellen? Werden Trainings wirklich wieder hauptsächlich in Seminarhotels abgehalten werden, nachdem mehr und mehr erfahren haben, dass es virtuell auch funktioniert und sogar Spaß machen kann? Die Marktentwicklungen sollten daher transparent und übersichtlich aufbereitet und der eigene Anpassungsfortschritt sichtbar gemacht werden.
Schwierig wird es mit der Transparenz, wenn es z. B. um die mögliche Notwendigkeit von Kündigungen geht. Aber auch hier zahlt sich Ehrlichkeit aus: Befürchtungen rumoren ohnehin und für die Betroffenen ist es fair, sich darauf einstellen zu können. Für alle anderen ist transparente Kommunikation gefordert, die aufzeigt, welche Qualifikationen, Haltungen und Verhaltensweisen es braucht, um die Wahrscheinlichkeit der eigenen positiven Entwicklung und der des Unternehmens zu erhöhen. Die agilen Top-Performer werden gerne an den Herausforderungen wachsen und brauchen sich nicht um andere Jobs außerhalb bemühen.
2. Iteration: Fahren auf Sicht im dichten Nebel auf rutschiger Straße ist aktuell die wahrscheinlich wichtigste Führungsfähigkeit. Agile Tools und Konzepte wie Daily Stand-ups, Scrum, OKR, Minimum Viable Solution sind in der (Nach-) Covid-Wirtschaft noch wichtiger geworden. Anstelle des gemächlichen 3-Schritt-Walzers »Planen-Tun-Reflektieren« braucht es schwungvolles »Probieren-Erkennen-Reagieren«. Anstelle von saisonaler Mode versuchen Teile der Textilbranche, Designermasken herzustellen und zu verkaufen. Aber auch hier ist der Bedarf irgendwann gesättigt. Ein Wiener Hotel vermietet Zimmer für ein paar Stunden, um eine Freiluftoper im Innenhof zu zeigen. Eine wirklich kreative Idee in Zeiten, in denen sich Regierungsaussagen wie ein Wetterhahn im Wind drehen (»Urlaub nur im eigenen Land«, »Ohne Touristen sterben unsere Tourismusbetriebe, also Grenzen auf«, »Die 2. Welle wird viel schlimmer werden«). Also fahren viele auf Sicht und wechseln die Richtung häufig in der Hoffnung, dass sich der Nebel zu lichten beginnt und ein wenig Planung wieder möglich wird. In der Trainingsbranche löst sich der Nebel schon etwas auf. Insbesondere, wenn neben dem Präsenzbein ein starkes virtuelles Bein aufgebaut wird, ist zumindest die Überlebensfrage weitgehend gelöst. Lernen ist wichtiger und dringender denn je. Auch die Sonne der Orientierung wird wieder sichtbarer: Die aktuelle Zeit lädt ein, über den gesellschaftlichen Beitrag, den Nutzen, aber auch den Schaden der eigenen Branche nachzudenken. Aus- und Weiterbildungsinstitutionen tragen viel zu einer gut funktionierenden, reifen, demokratischen Gesellschaft und Wirtschaft bei. Allerdings gibt es einen Kollateralschaden, den CO2-Ausstoß, der durch die Anreise der Teilnehmer zu Präsenzseminaren entsteht. Durch einen höheren Anteil an virtuellen Entwicklungsmaßnahmen verbessert sich der ökologische Fußabdruck signifikant. Allerdings sollte auch diese Entwicklung mit Augenmaß betrieben werden. Schon Goethe sagte: »Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen.« Und die persönliche Begegnung gehört zu den Grundbedürfnissen der Menschen.

3. Empowerment: Die Einbeziehung aller Mitarbeiter skaliert das kreative Potenzial einer Organisation in der Krise. Das wirtschaftliche Überleben hat immer zwei Hebelpunkte: Die Erhöhung der Einnahmen und die Reduktion der Ausgaben. Ideen zur Umsatzsteigerung sind meist das angenehmere Thema. Ideengenerierung funktioniert auch im Home-­Office gut. Der Kuss der Muse passiert oftmals in nicht-fokussierten Situationen, beim Spazieren gehen in der Natur oder unter der »berühmten Dusche«. Aber auch in gemeinsamen fokussierten virtuellen Meetings lassen sich mit Brainwriting-Methoden oftmals mehr Ideen erzeugen, als im physischen Meetingraum. Auch die selbstorganisierte Umsetzung von Ideen wird durch Tools wie MS Teams erleichtert. Jeder Kollege ist nur einen Klick entfernt. Die Führungskräfte müssen nicht in alle Details involviert werden. Manager sollten diese Eigeninitiative nicht nur zulassen, sondern auch bewusst unterstützen und Erfolgsgeschichten hervorheben. Scheitern gehört dazu und ist die Grundlage für die nächste gemeinsame Iteration von Lösungsideen. Heikler wird die Empowerment-Frage beim Thema Kostenreduktion. Auch hier macht Einbeziehung Sinn. Mitarbeiter sehen bisher unentdeckte Produktivitätspotenziale und Kosteneinsparmöglichkeiten, weil sie ja näher am Thema sind. Sogar wenn es um Personaleinsparungen geht, haben Mitarbeiter ein gutes Gefühl dafür, wer wie viel zur Unternehmensleistung beiträgt und wen eine Kündigung sozial weniger hart treffen würde.
Allerdings ist verständlicherweise vielen das Hemd näher als die Jacke und somit kann es leicht sein, dass sich persönliche Interessen und Unternehmensinteressen gerade in Krisenzeiten widersprechen können. Hier braucht es dann die Führungskraft, die aktiv die ungeliebte Verantwortung für Personalabbau übernimmt und zu den getroffenen Entscheidungen steht. Einzelgespräche machen hier oft mehr Sinn als Gruppendiskussionen, in denen Emotionen wie Angst und Wut die Gruppendynamik befeuern können. Führungskräfte sollten auf die passende Balance von Sagen und Zuhören achten: Einerseits ist es wichtig, die positive Absicht hinter schwierigen Entscheidungen zu erklären, anderseits zuzuhören, was mögliche und getroffene Entscheidungen bei Einzelnen, beim Team und in der Gesamtorganisation auslösen (würden) und wie damit so umgegangen werden kann, dass für alle Beteiligten das Bestmögliche erreicht werden kann.

Fazit: Die Abkürzung der agilen Prinzipien Transparenz, Iteration und Empowerment ist TIE. Tie bedeutet, aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt, binden. Kurz zusammengefasst geht es in der agilen Führung – insbesondere in der Covid-Phase – darum, zu entscheiden, was Unternehmen binden können und wollen. Also, was trägt zum Überleben in einer neuen Umwelt bei? Das können bestehende oder neue Geschäftsbereiche oder -ideen sein. Dazu gehört auch die Frage: Und was wollen wir lösen? Von welchen lieb gewonnenen Prozessen, Produkten etc. wollen wir uns lösen, um Raum für Neues zu schaffen?

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Gastautor
Gunther Fürstberger
ist Geschäftsführer des MDI (Management Development Institut).
www.mdi-training.com