Angelehnt an unseren »übertriebenen« Seminarbericht der Februarausgabe lesen Sie dieses Mal, was bei einer Rede so alles nerven kann.
»1 – 2 – 3 – Test. Verstehen Sie mich? Auch Sie, in der letzten Reihe?« Wer kennt diesen Einstieg nicht? Nahezu jede zweite Rede – oder wie es mittlerweile so schön heißt – Speech, beginnt so. Kurz darauf eilt ein nervöser Techniker auf die Bühne und tauscht das stilvolle Headset gegen ein simples Handmikrofon. Und wiederum hören wir die Zahlen »1 – 2 – 3 – Test« gefolgt von dem schmerzhaften Pfeifen der Rückkopplung. Doch der gefinkelte Techniker schiebt einige Regler nach unten und schon ist der Redner »on air«. Mit einem eher peinlichen Witz wie beispielsweise »Meine Frau findet, ich hätte sowieso keine Mikrofonstimme« wird diese Situation auch schon gemeistert und der Vortrag kann beginnen.
»So werden Sie erfolgreich« ist das heutige Thema. Der Referent erläutert, warum er heute auf der Bühne steht, was die Teilnehmer von ihm lernen können, welche Farbe sein neuer Aston Martin hat, in welchem Heimathafen seine Jacht steht und welches Geschenk er von Rolex zum Geburtstag bekommen hat. Die Anfänger unter den Zuhörern sind schlichtweg neidig und freuen sich enorm, in den nächsten Stunden die »Geheimnisse« des Erfolges zu erfahren, um auch bald so ein Luxusleben zu führen.
Die Profis sind genervt und verwundert, warum er keinen Privatjet und keine »Grand Complications« von Patek Philippe ums Handgelenk gebunden hat, sondern bloß eine schlichte Rolex. Nach seiner Einleitung verlässt er mit einem perfekten Sprung die Bühne.
»Ich sehe nervöse Gesichter unter Ihnen, denn Sie ahnen es bereits, dass ich gleich einen von Ihnen etwas fragen werde. Nachdem ich weiß, dass sich jetzt bestimmt jeder in der letzten Reihe sicher fühlt, nehmen wir doch gleich einmal … Sie, auf dem letzten Platz. Wie heißen Sie?« »Michael.« »Einen Applaus für Michael bitte!« »Michael, was führt Sie heute zu uns?« »Ich würde gerne Karriere machen, und komme einfach nicht weiter im Leben.« »Sie haben das Richtige getan. Von dem, was ich heute erzähle, werden Sie enorm profitieren. Das ist der erste Schritt. Umsetzen müssen Sie das dann alleine, dabei kann ich nicht helfen. Möchten Sie wirklich erfolgreich werden, Michael?« »Ja.« »Ich kann Sie nicht hören!« »JAAAA!« »Perfekt, Ihr Applaus!«
Er geht zurück auf die Bühne. Im Hintergrund ertönt das Lied »You are simply the best«. Danach folgt Stille und Dunkelheit im Saal. 500 Teilnehmer halten die Luft an, die Spannung wird greifbar. Wenige Sekunden später fällt ein Lichtkegel auf den Vortragenden, sein Blick richtet sich nach unten, dramatische Stimmung. Er beginnt zu erzählen: »Wissen Sie, als ich noch ein Kind war, war ich ganz anders als heute. Ich war ein Opfer. Meine Eltern haben mich in ein kleines Kabinett eingesperrt, ohne soziale Kontakte. Nur um in die Schule zu gehen, durfte ich hinaus.«
Betroffenheit im Publikum … zumindest bei den Anfängern. Die Profis kennen diese Geschichte schon in ganz ähnlichen Versionen von anderen Vortragenden. »Als ich 10 war, starben meine Eltern und ich musste zu meiner Großmutter. Auch dort ging es mir nicht besser. Wir hatten kaum Geld und wenig zu essen. Nachdem ich die Schule abbrechen musste, verdiente ich mein erstes Geld als Apfel-Pflücker.«
Manche Teilnehmer beginnen sich zu fragen, was das Ganze denn mit ihnen zu tun habe. Denn 20 von 60 Minuten sind schon vorbei, und gelernt haben sie noch nichts. »Doch dann habe ich in meiner Freizeit erfolgreiche Menschen mit weniger erfolgreichen Menschen verglichen und die Geheimnisse, die ich Ihnen gleich erzählen werde, herausgearbeitet und angewandt.«
Na dann leg doch endlich los!
»Und so wurde aus mir der, der ich heute bin. Und DU schaffst das auch.« Bevor wir aber zu den Geheimnissen kommen, müssen wir noch kurz aufstehen und unsere Sitznachbarn fragen, ob sie denn bereit sind, Erfolg zu haben, und wie viel sie dafür tun würden. Ist das erledigt, ertönt im ganzen Vortragssaal unüberhörbar das Lied »Conquest of Paradise« von Vangelis, und das Video dazu wird auf die Leinwand projiziert. Immer lauter und lauter. Beim Refrain spüren die Teilnehmer doch tatsächlich, das sie wirklich alles schaffen können.
Erfolgsgeheimnisse
Nun kommen wir endlich zu den versprochenen Geheimnissen, um auch bald einen Porsche zu fahren und mit 40 finanziell unabhängig zu sein. Leider sind nun schon 30 Minuten um, daher schafft der Speaker es nur noch, uns 3 Geheimnisse näher zu bringen. Doch er hat eine Lösung. In 3 Wochen bietet er genau zu diesem Thema ein Seminar an. Und welch Glück: Es sind noch ein paar wenige Restplätze frei. Mir ist klar, dass diese schnell vergriffen sind, daher weist auch der Vortragende mehrmals darauf hin, sich möglichst bald anzumelden.
Geheimnis Nr. 1: »Du brauchst Ziele im Leben«
Ach so ist das … ach daran habe ich noch nie gedacht. Denn der Vortragende weiß: »Wer den Hafen nicht kennt, in den er segeln will, für den ist kein Wind der richtige.« »Ziele definieren, und alles dafür zu tun, diese auch zu erreichen«, lautet die Aufforderung. Stimmt ja, aber das ist kein Geheimnis, denke ich.
Geheimnis Nr. 2: »Kennen Sie die richtigen Menschen!« Und nicht nur das, sorge dafür, dass sie über Dich reden, ja sogar, dass sie Dich weiterempfehlen. Seien Sie besonders, ja einzigartig und Sie bekommen Empfehlungen. »Ich bin einzigartig beim Luftanhalten in der Badewanne«, denke ich, und bekomme trotzdem keine Empfehlungen. Schade.
Geheimnis Nr. 3: »Bilde Dich weiter!« Denn lebenslanges Lernen bringt weiter. Und lesen, so behauptet der Redner, macht intelligenter als fernsehen. Ich freue mich sogleich auf meine Abendlektüre »Shades of Grey«.
Naja, so wirklich neu war dieses Geheimnis leider auch nicht. Aber der neuerliche Hinweis auf seine Seminare und seine Bücher lässt Hintergedanken bei diesem »Geheimnis« vermuten.
Mittlerweile ist die Vortragszeit bereits um 10 Minuten überschritten, doch der Redner möchte es sich nicht nehmen lassen, nur uns, noch ein viertes Geheimnis anzuvertrauen, weil wir so ein tolles Publikum sind. Ich freue mich so.
Geheimnis Nr. 4: »Positiv Denken!« Dem Speaker ist sogar bewusst, dass das banal klingt, und dass wir das vermutlich schon einmal gehört haben, doch ob wir es auch umsetzen, bezweifelt er. So ermahnt er uns, von diesem Vortrag nur das Positive in Erinnerung zu behalten, und keine negativen Gedanken zuzulassen. WOW, nein, wer hätte das gedacht!
Ob sich mein Leben verändern wird? Oh ja, ich werde Zeit und Geld sparen und nicht mehr zu so einem Vortrag gehen.