Immer mehr Unternehmen gestalten ihre Strukturen dynamisch und fördern so individuelle Karrierewege, womit sie sich von den starren Hierarchien der Vergangenheit abheben. TRAiNiNG hat zu diesem Thema recherchiert und einen Experten interviewt.
Das Konzept der Hierarchie und damit jenes von Karriereleitern ist so alt wie die Geschichte der organisierten Arbeit selbst. Man denke nur an die präzisen Strukturen in den Manufakturen des Habsburgerreiches, wo der berufliche Aufstieg so linear und vorbestimmt war wie ein Walzertakt. Die klassische Karriereleiter, mit ihren klar definierten Sprossen und Richtungen, bot Sicherheit und eine berechenbare Zukunft. Diese strengen, fast feudalen Strukturen spiegelten sich auch in der Arbeitswelt wider. Als Beispiele dienen die Zunftordnungen, die bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht nur Handwerkskunst, sondern auch Berufswege regulierten. Mit der Industrialisierung wurden diese Ordnungen durch Fabriksysteme ersetzt, welche die Hierarchien noch verstärkten. Die Trennung von Kopf- und Handarbeit, von Management und Arbeiterschaft, prägte die Unternehmen. Es sind die Anfänge des Taylorismus und des Fordismus.
Im 20. Jahrhundert, als Österreich sich zu einer modernen Industrienation wandelte, wurden Hierarchien zwar flexibler, behielten aber ihren grundsätzlichen Charakter bei. Manager wurden nach wie vor an der Spitze gesehen, während die Masse der Mitarbeiter sich in den unteren Rängen wiederfand und das zu tun hatte, was die Menschen weiter oben befahlen.
Die postindustrielle Ära und die zunehmende Globalisierung brachten schließlich den Wandel. Die Informationstechnologie und das Internet begannen, die traditionellen Hierarchien aufzubrechen. Die Welt wurde vernetzter, und die Arbeitsstrukturen mussten sich anpassen. Hierarchien wurden flacher, und die Kommunikationswege direkter.
Heute befinden wir uns in einer Epoche, in der Hierarchien nicht verschwunden, aber deutlich transformiert sind. In vielen Unternehmen wird Wert auf Teamarbeit, flache Hierarchien und agile Arbeitsmethoden gelegt. Die klassische Pyramide mit dem Chef an der Spitze wird mehr und mehr durch netzwerkartige Strukturen ersetzt, in denen Führung eine Frage der Kompetenz und nicht der Position ist.
Das Verständnis von Karriere hat sich durch diese strukturelle Veränderung ebenfalls gewandelt. Es ist nicht länger das Bild der emsigen Angestellten, die Stufe für Stufe aufsteigen, sondern das des kreativen und flexiblen Individuums, das seinen eigenen Pfad formt – manchmal quer, manchmal aufwärts, aber immer mit dem Ziel der persönlichen und beruflichen Erfüllung. Von vielen jungen Menschen ist es überhaupt nicht mehr das Ziel, ganz nach oben zu kommen. Erfolg wird nicht mehr zwangsläufig mit Karriere gleichgesetzt.
Individuelle Karriereprogramme, die auf die Stärken, Interessen und Lebensumstände der Beschäftigten zugeschnitten sind, gewinnen an Bedeutung. Dies ist eine Entwicklung, die HR-Manager aktiv mitgestalten können und sollen. Die Implementierung solcher Programme erfordert ein großes Umdenken. Es geht nicht mehr darum, eine »Leiter« mit vordefinierten Stufen zu erstellen, sondern darum, eine Plattform zu bieten, auf der die Mitarbeiter ihre eigenen Wege bauen können. Das bedeutet auch, dass HR-Manager sich von dem Gedanken verabschieden müssen, Karriereentwicklung sei ein linearer Prozess.
TRAiNiNG hat für diesen Artikel Erich Nepita interviewt, der als Geschäftsführer von LHH/OTM Karriereberatung einen umfangreichen Einblick in den Arbeitsmarkt und die Karrierewege in Österreich hat.
Herr Nepita, bitte beschreiben Sie den Wandel von der traditionellen Karriereleiter zu individuellen Karriereprogrammen? Was sind die Hauptfaktoren, die diesen Wandel vorantreiben?
»In der Karriereberatung bei LHH beobachten wir einen bedeutenden Wandel in der Art und Weise, wie Karrieren verlaufen. Früher war es üblich, dass nach einer Lehre oder einem Studium ein bestimmter Karriereweg festgelegt wurde, der sich bis zur Pensionierung fortsetzte. Mit 55 Jahren war oft ein Wendepunkt erreicht, an dem es in erster Linie um das Ausklingenlassen der Karriere bis zur Pensionierung ging. Heute hingegen sind Karrieren eine Abfolge verschiedener wegweisender Momente im Arbeitsleben. Während junge Menschen momentan noch die Möglichkeit haben, sich den Job auszusuchen, ändert sich die Situation ab 42 plus. Plötzlich sind passende Stellen auf dem Arbeitsmarkt schwer zu finden. Woran liegt das? Einerseits hat man nach 20 Jahren bereits viel Erfahrung gesammelt. Andererseits gilt es, sich auf stetige Veränderungen einzustellen. Daher ist es oft hier an der Zeit für eine langfristige Positionierung in der Karriere, um sich aktiv am Markt zu positionieren.
Im Alter von 52 Jahren und älter geht es darum, entweder eine Spezialisierung anzustreben oder sich basierend auf seinen Stärken neu zu positionieren – wir sprechen hier von Career Transition. Nicht selten stehen Führungskräfte im Alter von 55 plus vor der Herausforderung, ihre lebenslange Karriere neu oder anders zu gestalten. Es ist schwer vorstellbar, einfach so weiterzumachen wie in den letzten 20 Jahren, sowohl für die Person selbst als auch für den Arbeitgeber. Oft steht ein kompletter ›Career Shift‹ an – also eine vollständige Neupositionierung mit dem Ziel, einerseits in der Arbeitswelt präsent zu bleiben und andererseits den beruflichen Alltag mit Sinn und Freude zu gestalten.«
Herausforderungen für die Personalentwicklung
Individuelle Karrierepfade bedeuten für die Personalentwicklungsabteilung eine Umstellung auf eine maßgeschneiderte Mitarbeiterförderung, die das Individuum in den Mittelpunkt stellt. Dies beginnt bei personalisierten Entwicklungsplänen, die auf die spezifischen Fähigkeiten und Karriereziele jedes Mitarbeiters abgestimmt sind. Die Personalentwicklung muss flexible Laufbahnmodelle etablieren, die horizontale, vertikale und diagonale Bewegungen innerhalb der Organisation erlauben.
Inwiefern unterscheidet sich dieser Ansatz von der standardmäßigen Karriereleiter in Bezug auf die Personalentwicklung?
Erich Nepita: »Wir beobachten, dass viele Unternehmen bereits eine Vielzahl von Tools und Maßnahmen zur professionellen Personalentwicklung einsetzen – von der Talent-Akquisition mit Hilfe von Personaldiagnostik bis hin zur Führungskräfteentwicklung. Was in unseren Augen zunehmend an Bedeutung gewinnen wird, sind Coaching-Initiativen als permanente Begleiter und die Begleitung von Führungskräfte-Entwicklung in Form von Blended-Learning-Ansätzen und einem stärkeren integralen Ansatz mit Peer-Group-Learnings. Die wichtigste Entwicklung ist jedoch, dass das Wohlbefinden am Arbeitsplatz heute eine noch größere Rolle spielt als je zuvor. Eine globale Studie zum Thema Well-Being von LHH zeigt eine deutliche Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Mitarbeiter und den Fähigkeiten der Führungskräfte. Zum Beispiel geben 53 % der Nicht-Manager an, dass Führungskräfte nicht erkennen, wenn Mitarbeiter mit Überlastung oder Burnout kämpfen. Gleichzeitig berichten jedoch 3 von 10 Arbeitnehmern, dass sich ihre geistige und körperliche Gesundheit in den letzten 12 Monaten verschlechtert hat, und 4 von 10 haben in den letzten 12 Monaten Burn-out erlebt. In diesem Zusammenhang ist es unabdingbar, dass Unternehmen sich zukünftig auch standardmäßig um Well-Being-Angelegenheiten in der Personalentwicklung kümmern.
Vorteile individueller Karriereprogramme
Individuelle Karriereprogramme bieten eine Vielzahl spezifischer Vorteile für Mitarbeiter und tragen maßgeblich zur Talentbindung in Unternehmen bei.
Erich Nepita: »Sie ermöglichen es den Mitarbeitern, ihre eigenen Stärken, Fähigkeiten und Interessen besser zu verstehen und entwickeln zu können. Durch eine persönliche Karriereplanung können sie gezielt an ihrer beruflichen Weiterentwicklung arbeiten und sich in die Richtung bewegen, die ihren individuellen Zielen und Bedürfnissen entspricht. Dies führt zu größerer Zufriedenheit und Motivation der Mitarbeiter, da sie das Gefühl haben, ihre Karriere aktiv gestalten zu können. Zusätzlich haben individuelle Karriereprogramme den Vorteil, dass sie den Mitarbeitern maßgeschneiderte Unterstützung und Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Anstatt an allgemeinen Trainings- oder Entwicklungskursen teilzunehmen, erhalten die Mitarbeiter beispielsweise Coachings, die auf ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnitten sind. Dies steigert nicht nur ihre fachlichen Fähigkeiten, sondern auch ihre Selbstwahrnehmung und ihr Selbstvertrauen. Die Mitarbeiterbindung wird erheblich gestärkt, da die Mitarbeiter durch den Aufbau von emotionaler Verbindung durch Leadership Entwicklung das Gefühl haben, dass das Unternehmen an ihrem langfristigen Erfolg interessiert ist und bereit ist, in ihre berufliche Entwicklung zu investieren.«
Herausforderungen bei der Implementierung
Bei der Einführung individueller Karrierepfade tauchen aber auch Herausforderungen auf, die Personalabteilungen bzw. PE-Abteilungen meistern müssen. Die größte Hürde ist die gesteigerte Komplexität in der Verwaltung. Ein personalisiertes Karrieremanagement bedeutet, dass für jeden Mitarbeiter individuelle Pläne geschmiedet, überwacht und angepasst werden müssen, was den administrativen Aufwand deutlich erhöht.
Erich Nepita: »Eine der größten Herausforderungen in der Praxis ist die Gewährleistung von Hygienefaktoren. Dies schließt die Unterstützung in Bezug auf Work-Life-Balance sowie die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und sozialem Umfeld mit ein. Insbesondere, wenn es darum geht, junge Talente zu gewinnen, ist es entscheidend, dass das Arbeitsumfeld attraktiv und ansprechend gestaltet ist, um ihre Motivation aufrechtzuerhalten. Ein weiterer Aspekt ist die Schaffung einer klaren Vision und Perspektive, sowohl für Führungskräfte als auch für Mitarbeiter. Führungskräfte müssen wissen, wohin die Reise geht, um transparente und klare Ziele setzen zu können. Dies ermöglicht es den Mitarbeitern, bewusste Entscheidungen über ihre berufliche Zukunft zu treffen und sich aktiv auf ihre Karriereprogramme einzulassen. Eine erfolgreiche Implementierung erfordert eine Coaching-Kultur wie auch eine ehrliche Fürsorge um Mitarbeiter. Es ist wichtig, sie in den Mittelpunkt zu stellen und ihnen Unterstützung und Begleitung anzubieten. Führungskräfte sollten hierbei eine Vorbildfunktion übernehmen und mit Leidenschaft und Engagement vorangehen. Des Weiteren sollten Mitarbeiter verstehen, wie ihr Beitrag zum größeren Ganzen des Unternehmens passt. Es ist wichtig, die Verbindung zwischen ihren Karrierewegen und den Zielen des Unternehmens aufzuzeigen. Dies schafft ein Gefühl von Sinnhaftigkeit und fördert die Mitarbeiterbindung. Schließlich sollte das Wohlbefinden der Mitarbeiter als Bestandteil der Unternehmenskultur berücksichtigt werden. Dies erfordert Maßnahmen zur Förderung eines gesunden Arbeitsumfeldes in 5 Dimensionen: Berufliches Wohlbefinden, Zweck Wohlbefinden, Finanzielles Wohlergehen, Mentales Wohlbefinden und Emotionales Wohlbefinden.«
Die Herausforderungen für Unternehmen werden sich in den kommenden Jahren weiter erhöhen.
Erich Nepita wagt eine Prognose: »Bis mindestens 2035 wird ein extremer Fachkräftemangel herrschen, und die Generation X wird stark unter Druck stehen. Vier von fünf Personen werden neue Jobs haben, und die Entwicklung von Recruiting und Talent-Acquisition wird sich zu einem ganzheitlichen Talent Management entwickeln. Ein besonders gefragtes Merkmal für Arbeitgeber wird die Flexibilität im Umgang mit ihren Mitarbeitern sein. Jede Generation hat unterschiedliche Bedürfnisse hinsichtlich ihrer Karrierewege, was in einem dynamischen Markt wie dem heutigen eine entscheidende Rolle spielt. Die Babyboomer suchen Sicherheit für ihre letzten Arbeitsjahre, die Generation X legt besonderen Wert auf Work-Life-Balance und Unabhängigkeit, die Millennials streben nach Freiheit und Flexibilität und die Generation Alpha möchte sich kontinuierlich weiterentwickeln. Aus diesem Grund haben wir den Karriere Club Austria ins Leben gerufen, um den generationsübergreifenden Dialog über das Thema ›Karriere auf Lebenszeit‹ zu fördern. Flexibilität und das Verständnis der individuellen Bedürfnisse sind entscheidend, um den Karrierezielen gerecht zu werden.«
Fazit
Die Karrierewahrnehmung hat sich in den letzten Jahren verändert: Weg von einem linearen Aufstieg auf einer Karriereleiter hin zu einem flexiblen, individuell gestalteten Berufsweg. Unternehmen erkennen, dass starre Strukturen Innovation hemmen und individuelle Potenziale ungenutzt lassen. Individuelle Karriereprogramme, die auf die Stärken und Lebensumstände der Mitarbeiter zugeschnitten sind, gewinnen an Bedeutung.