In der Diskussion zur digitalen Transformation zeigen sich alte Muster, die immer dann entstehen, wenn Neuerungen disruptiv für Unsicherheit sorgen.
Die Leistungsfähigkeit von Organisationen resultiert aus dem Zusammenspiel von der Person, dem Leistungspotenzial und dem System, dem Leistungskontext. Führungskräfte steuern durch ihr Handeln das Zusammenspiel von Person und Situation, indem sie Personen selektieren, einsetzen und entwickeln und indem sie den Systemkontext, d. h. die formalen Regeln und Technologien sowie die organisationskulturellen Rahmenbedingungen, zu beeinflussen versuchen. Über ihr Handeln transferieren sie die strategischen Zielsetzungen des Unternehmens mittels Gestaltung des Performance Core in die Organisation. Demnach berührt die Diskussion über die digitale Transformation substanziell die Aktivitäten der Führungskräfte. Neue Technologien verändern den Systemkontext und könnten ein Spannungsfeld zur bisherigen kulturellen Einbettung erzeugen. Sie können aber auch andere Fähigkeiten auf individueller Ebene bedingen. Schließlich kann das Entstehen neuer Technologien und der dadurch möglichen Geschäftsmodelle bislang geltende strategische Leitlinien in Frage stellen und große Unsicherheit in Bezug auf die Entwicklungen im Wettbewerbsumfeld auslösen.
Metaphorisch lässt sich eine neue Technologie mit einem neuen Klavier vergleichen, wo den Personen die Fähigkeiten fehlen, es klangvoll in Gang zu setzen. Das Klavier ist nicht das Problem, so wie auch eine neue Technologie nicht das Problem ist. Vielmehr ist zu fragen, wie sehr Personen über die individuellen Fähigkeiten verfügen, sinnstiftend mit dem Klavier umzugehen. Bei einer neuen Technologie muss dementsprechend auch die Frage gestellt werden, welche Fähigkeiten Mitarbeiter mitbringen müssen, um die technologischen Möglichkeiten erst richtig zu nützen. Zudem ist beim Klavier auch die kulturelle Einbettung essenziell, um darüber zu entscheiden, ob das Nutzungsergebnis nun Wohlklang oder Missklang ist. Denn ein Klavier in einem Symphonieorchester ist anders einzusetzen als in einer Jazzband. Gleiches gilt für neue Technologien, wo die organisationskulturelle Einbettung entscheidet, ob das Unternehmen mit den technologischen Möglichkeiten ein wettbewerbsfähiges Geschäftsmodell entwickeln kann oder ob nur in teure Technologien investiert wird, die letztlich am Markt keinen Wettbewerbsunterschied erzeugen. Damit wird schließlich auch die strategische Dimension angesprochen, denn wie bedacht das Klavier eingesetzt wird und wie Personen und Kollektive (Orchester) lernen, Musikstücke mit Klavierunterstützung zu spielen, ist eine originäre Frage der Planung. Wie auch in Unternehmen strategisch zu entscheiden ist, welches Potenzial in neuen Technologien und in den damit erzeugbaren Wettbewerbsvorteilen gesehen wird und wie der organisationale Lernprozess gestaltet werden kann, um von den technologischen Möglichkeiten tatsächlich zu profitieren. Das Zusammenspiel der Teilkomponenten zu orchestrieren, liegt letztlich bei den Führungskräften, die für die Koppelung von Strategie, Technologie, Organisation und Personal verantwortlich sind. Wie auch Dirigenten aus verschiedenen individuellen und technologischen Einzelleistungen eine kollektive Symphonie erzeugen müssen, um wohlwollend vom Publikum aufgenommen zu werden.
Die Kernentscheidung im Umgang mit neuen technologischen Möglichkeiten liegt in der Frage, inwieweit die neue Technologie den bisherigen Entwicklungspfad des Unternehmens fortschreibt und unterstützt oder ob durch die Technologie ein Pfadbruch notwendig ist oder möglich wird. Daran schließt die Frage, ob die bisherigen Kernkompetenzen ausreichen, um nach wie vor erfolgreich im Markt zu agieren oder ob die neue Technologie die bestehende organisationale Kompetenzbasis disruptiv entwerten könnte. Besonders für erfolgreiche Unternehmen, die ihre Kernkompetenzen über lange Jahre entwickelt und kultiviert haben, ist das Auftreten von neuen Technologien und damit verbundenen Geschäftsmodellen besonders brisant. Denn die Entscheidung, ab wann und in welcher Intensität in neue technologische Möglichkeiten investiert werden sollte, ist schwer zu prognostizieren.
Gleich zwei Dilemmata führen dazu, den bestehenden Entwicklungspfad beizubehalten. Das Innovator’s Dilemma zeigt, dass über kleinräumige (exploitative) Innovationen leichter zu entscheiden ist als über risikoreiche explorative Innovationen. Unternehmen tendieren daher zu exploitativen Innovationen, um ihre bestehenden Kompetenzen inkrementell zu verbessern. Das Productivity Dilemma verführt Unternehmen dazu, dass sie Prozessoptimierungen eher durchführen, als auf die weitere Forcierung der Innovationstätigkeit zu setzen, denn durch Verbesserungen bei den Geschäftsprozessen lassen sich schnell finanzielle Erträge lukrieren, wohingegen Innovationen während der langen und unsicheren Entwicklung nur finanzielle Ressourcen verschlingen.
Unternehmen wie Kodak, Grundig oder die Mobiltelefonsparte von Nokia als warnende Beispiele dienen für Situationen, wo neue disruptive Technologien etablierte Unternehmen in der Substanz gefährdeten, da sie nicht rechtzeitig und substanziell in der Lage waren, ihren Entwicklungspfad radikal zu verändern.
Die Entwicklung in neue Technologien, um den Entwicklungspfad des Unternehmens substanziell zu verändern, ist aber ebenfalls mit zwei Dilemmata verbunden. Das Inefficiency Dilemma, quasi als Rückseite des Productivity Dilemma, führt vor Augen, dass die Entstehung neuer Kompetenzen zu Beginn oft mit großen Schwächen und damit mit hohen Kosten bei der Entwicklung des Geschäftsmodells und bei der Gestaltung der Geschäftsprozesse verbunden ist. Unternehmen verbrennen Geld, ohne dass eine langfristige Ertragsperspektive entsteht. Damit einher geht auch das Ineffectiveness Dilemma, denn neue Produkte und deren technologische Basis können Schwächen aufweisen, die sich erst im Betrieb zeigen und zu teuren und reputationsschädigenden Nacharbeiten führen.
Unternehmen tun daher gut daran, wenn sie bei der Entwicklung ihrer organisationalen Kompetenzbasis sowohl die Nutzung und Effizienz- bzw. Qualitätsverbesserung ihrer bestehenden Kernkompetenzen im Blick haben und gleichzeitig offen für Neuentwicklungen sind. Was auf dem Papier als leicht integrierbar erscheint, ist in der Praxis mit völlig konträren Lernprozessen verbunden. Denn exploitative Lernprozesse basieren auf kleinräumigen Entwicklungen, Weiterentwicklungen bestehender Technologien und der Bearbeitung von bestehenden Märkten. Explorative Lernprozesse hingegen sind durch risikoreiche Aktivitäten gekennzeichnet, wie die völlige Neuentwicklung von Technologien, Märkten und Geschäftsmodellen. Im Gegensatz zu Exploitation kosten sie viel Geld und die Ertragsperspektive ist ungewiss.
Die Kunst von Unternehmen ist es daher, exploitative Aktivitäten zur besseren Nutzung bestehender Kernkompetenzen mit explorativen Engagements zu verbinden, um kurzfristige Profitabilität mit langfristigem Überleben zu kombinieren. Allerdings führen beide Muster zu Widersprüchen, Spannungen und Irritationen in Unternehmen, denn wodurch Exploitation gefördert wird, wird Exploration behindert und umgekehrt.
Die Kunst der digitalen Transformation liegt daher im bewussten Umgang mit Widersprüchen, um die Entwicklungspfade auf individueller und auf organisationaler Ebene zu gestalten. Nicht die Technologie ist die Herausforderung. Vielmehr sind Führungskräfte gefordert, die passenden Strategien und Veränderungsarchitekturen zu wählen, um den Performance Core von Unternehmen in die neue Welt zu führen.