Christoph Zulehner hat den Speaker-Slam 2017 gewonnen. In diesem Artikel beschreibt er, warum Erfolg die Täuschung braucht.
Wetten, dass Sie die folgende Geschichte ein zweites Mal lesen? Und wetten, dass auch Sie schon ähnlich Aufregendes erlebt haben?
»Guten Abend, heute Nacht bin ich für Sie verantwortlich!« Mit diesem absurden Mutmacher begrüße ich vor mehr als 30 Jahren meine Patienten. Manche fragen skeptisch nach, ob ich denn neu sei, weil sie mich bisher noch nie gesehen haben. Aber selbst darauf bin ich vorbereitet. Eine der Patientinnen – eine rund 60-jährige Dame – ist besonders skeptisch. Wir wissen zu diesem Zeitpunkt beide nicht, dass diese Nacht unser Leben für immer verändern wird.
Ich bin alleine verantwortlich für fast 40 Patienten. Meine Patienten haben keine Ahnung, dass dies mein erster Nachtdienst ist. Und ich? Ich habe auch keine Ahnung. Ich bin noch in Ausbildung. Grün hinter den Ohren und habe die Hosen gestrichen voll.
Einen Vorteil habe ich. Ich bin mit einem weißen Mantel bekleidet. Oder sollte ich besser sagen: verkleidet. Sie wissen ja, was Kleidung mit einem macht. Wissen Sie aber auch, was Kleidung mit anderen macht? So ein weißer Mantel verleiht schnell die Aura des Experten. Und ich will Ihnen etwas verraten. Sie wollen es oft gar nicht wissen, was sich hinter einem weißen Mantel verbirgt. Sie wollen vertrauen. Sie wollen darauf vertrauen, dass die Person, die vor Ihnen steht, das beherrscht, was sie vorgibt zu beherrschen. Sie müssen manchmal sogar vertrauen.
Ganz ehrlich, was hätten Sie an meiner Stelle getan? Die Patienten mit den nackten Tatsachen konfrontieren? »Guten Abend, ich bin noch in Ausbildung. Das ist mein erster Nachtdienst. Ich habe keine Ahnung, aber ich hoffe, dass uns heute Nacht nichts passiert!« Natürlich passiert etwas. So wie immer etwas passiert. Und Angst zieht auch Unglück an. Und so ist es auch in dieser Nacht.
Ich bin gerade im Stützpunkt beschäftigt, als es läutet. Es ist das Zimmer mit dieser skeptischen Patientin. Als ich Nachschau halte, kann sie noch etwas stammeln. Dann geht alles ganz schnell. Ich löse den Herzalarm aus und spule mein Programm ab. So wie ich es in der Theorie gelernt habe. Praktisch habe ich bisher nur auf Gummipuppen herumgedrückt. Rein beruflich, versteht sich. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich wiederbelebe. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Aber dann trifft das Herz-Alarm-Team ein, übernimmt meine Patientin und bringt sie auf die Intensivstation.
Ich habe Glück. Ich überlebe den Zwischenfall und meine Patientin überlebt auch. Als sie einige Tage später wieder auf meine Station zurück gebracht wird, sagt sie etwas, was mein zukünftiges Berufsleben für immer verändern wird: »Ihrer Professionalität verdanke ich mein Leben.« Sie sagt nicht »Ich hatte Glück!« Sie sagt: »Ihrer Professionalität verdanke ich mein Leben.« Das war mein erster erfolgreicher Fake und es sollten noch mehr werden!
Zugegeben, mein erster Fake war nicht geplant. Aber bestimmt kennen Sie das aus eigener Erfahrung. Sie werden in eine Situation gebracht, in der Sie an der eigenen Kompetenz zweifeln. Aber Sie meistern die Herausforderung. Und wissen Sie auch warum? Weil der Druck, unter dem Sie stehen, all Ihre Kräfte mobilisiert. Das ist der wahre Fake. Das ist der Grund, warum wir erfolgreich sind. Das ist der Grund, warum wir über uns hinaus wachsen.
Stellen Sie sich vor, Sie würden immer nur das tun, von dem Sie sicher sind, dass sie es umfänglich beherrschen. Sie würden niemals ins Handeln kommen. In unserer Wissensgesellschaft, in unserer Welt voller Experten, läuft uns nämlich die Zeit davon. Deshalb ist der Fake kein Betrug. Deshalb ist der Fake eine unabdingbare Notwendigkeit. Deshalb ist der Fake eine unverzichtbare Kulturtechnik.
Unbegreiflich, dass das Wort »Fake« in letzter Zeit so negativ beleumundet ist. Denn in Wirklichkeit faken wir uns von Geburt an durch das Leben. Wenn Kinder auf die Welt kommen und beginnen, ihre Umwelt wahrzunehmen und auf sie zu reagieren, setzt ein Prozess ein, der ihr ganzes Leben lang weitergehen wird: Sie lernen. Zunächst ganz unbewusst, indem sie einfach ihre Eltern, Geschwister oder andere Bezugspersonen nachahmen. Sie tun, was sie sehen. Sie lachen, weil sie angelacht werden. Sie entwickeln Sprache, weil andere mit ihnen sprechen. Sie lernen zu laufen, weil alle anderen sich auch auf ihren zwei Beinen bewegen. Sie probieren die Schuhe und die Kleidung ihrer Eltern an, in ihren Spielen miteinander, schlüpfen sie in andere Rollen, sie reden so wie Erwachsene – weil sie so sein wollen wie sie. Ganz unbewusst.
Über die Nachahmung lernen Menschen sogar, sich zu fürchten. Läuft einem Erwachsenen eine Spinne über den Arm und äußert dieser daraufhin lautstarke Zeichen von Furcht oder Ekel – indem er kreischend wegläuft, beispielsweise – verinnerlicht ein Kind sofort: Oha, eine Spinne, ich muss mich fürchten! Wenn möglich probieren Menschen nicht selbst aus, sondern lernen anhand der Reaktion von anderen sehr schnell. In diesem Fall, dass eine Spinne ein so schreckliches Tier sein muss, dass man nur kreischend weglaufen kann. Solche »vorbereiteten Assoziationen« haben durchaus ihre Berechtigung – müsste jeder Mensch aufs Neue lernen, welche Situationen für ihn gefährlich sind und welche nicht, dann wäre er erstens lange beschäftigt und hätte zweitens eine sehr niedrige Lebenserwartung. Deshalb sind Menschen auch so gut darin, durch Nachahmung zu lernen – es verschafft ihnen einen großen evolutionären Vorteil.
Bei meiner Recherche für mein Buch las ich einmal mehr »Die Welt von gestern«, die Autobiografie von Stefan Zweig – ein Werk, das einen literarisch eindringlichen, fesselnden und persönlichen Blick auf die Kultur des alten Europas wirft. Geschrieben zwischen 1939 und 1941. Eine Stelle in diesem Buch, ließ mich lachen. Die Passage, in der Stefan Zweig genau über das schreibt, worum es beim Fake geht:
»Vierundzwanzig- oder fünfundzwanzigjährige junge Ärzte, die eben das medizinische Examen absolviert hatten, trugen mächtige Bärte und setzten sich, auch wenn es ihre Augen gar nicht nötig hatten, goldene Brillen auf. Nur damit sie bei ihren ersten Patienten den Eindruck der Erfahrenheit erwecken könnten. Man legte sich lange schwarze Gehröcke zu und einen gemächlichen Gang und wenn möglich ein leichtes Embonpoint (Körperfülle, dicker Bauch), um diese erstrebenswerte Gesetztheit zu verkörpern. Und wer ehrgeizig war, mühte sich, dem der Unsolidität verdächtigen Zeitalter der Jugend wenigstens äußerlich Absage zu leisten. Schon in der sechsten und siebenten Klasse weigerten wir uns, Schultaschen zu tragen, um nicht mehr als Gymnasiasten erkenntlich zu sein. Und benützten stattdessen Aktenmappen.«
Anfang des 20. Jahrhunderts war es unter den jungen Wiener Ärzten also üblich, sich Vollbärte wachsen zu lassen und goldene Brillen zu tragen, obwohl sie gar nicht schlecht sahen. Mit diesen »Masken« wollten die jungen Ärzte erreichen, dass sie älter, erfahrener und weiser aussahen – um gegenüber den Patienten mehr Autorität ausstrahlen zu können und von ihnen ernst genommen zu werden. Der Fake kennt aber noch viele andere Methoden und Hilfsmittel: Sprache, Auftreten, Verhalten, Hobby, Bürostandort, Netzwerke, Zugehörigkeiten usw. Der Fake ist seit jeher Bestandteil unserer Kultur und kein schlitzohriger Betrug.
Helfen Sie also mit, dem Fake wieder zu jenem Ansehen zu verhelfen, das er verdient. Denn der Fake ist eine unverzichtbare Kulturtechnik. Eine Möglichkeit, in der Welt der Experten gesehen und richtig zugeordnet zu werden. Der Fake hilft uns dabei, in unserer Informationsgesellschaft erfolgreich zu sein. Denn mit dem Wettbewerb der Experten haben auch der Wettbewerb um die richtige Positionierung und der Wettbewerb um Aufmerksamkeit begonnen.
Ich komme selbst aus dem Gesundheitswesen. Eines der schönsten Biotope für Faker. Ich bin Doktor. Arzt bin ich aber keiner. Die Geschichte, die ich Ihnen am Beginn dieses Artikels erzählt habe, ist wahr und ich habe sie selber erlebt. In welcher Rolle? Vielleicht sollten Sie die Geschichte noch einmal lesen?