Wie es im Training gelingt, die kognitive Verzerrung in hybriden Veranstaltungen aufzulösen, lesen Sie in diesem Artikel.
Warum sollten nicht auch Teammitglieder, die in anderen Ländern oder im Home-Office sind, an einem Training teilnehmen? Diese und ähnliche Fragen tauchen auch post-pandemisch häufig auf. Kein Wunder, schließlich arbeiten fast alle Unternehmen mit hybriden Arbeitsmodellen und verteilten Teams, deren Mitglieder alle gleichermaßen von Fortbildungen profitieren sollen. Aber geht das?
Proximity Bias
Laut Studien profitieren tatsächlich eher Trainingsteilnehmer, die physisch anwesend sind, im Vergleich zu jenen, die per Videokonferenz zugeschaltet sind. Schuld ist der sogenannte Proximity Bias (kurz P. B.: Proximity = Nähe, Bias = Vorurteil).
Diese »Verzerrung durch Nähe« führt dazu, dass Personen in Leitungsrollen jene Mitarbeiter, die ihnen physisch näher sind, unbewusst bevorzugen. Jene, die im Home-Office oder in anderen Ländern arbeiten, werden als weniger produktiv und leichter ersetzbar eingeschätzt und zudem seltener befördert. Gleichermaßen »vergessen« Lehrende im hybriden Setting oft online zugeschaltete Personen und fokussieren stärker auf die im Raum Anwesenden. Getreu dem Motto: »Aus den Augen, aus dem Sinn.«
Diese instinktive Urteilsverzerrung ist evolutionär begründet, nachdem uns Menschen klar Sichtbares schon immer sicherer und verlässlicher erschien als Fernes. In großen Seminargruppen tritt das Phänomen ebenfalls auf: Nahe beim Trainer sitzende Personen werden von diesem als sympathischer und kompetenter wahrgenommen.
Die Herausforderungen
Der P. B. kann in hybriden Seminaren dazu führen, dass online zugeschaltete Personen sich ausgeschlossen fühlen und dadurch schnell das Interesse verlieren. Ein virtueller Lernerfolg wird dementsprechend gehemmt. Sowohl auf die Stimmung und Gruppendynamik im Raum zu reagieren, als auch die virtuell Beteiligten im Auge zu behalten und aktiv einzubeziehen, ist nicht leicht. Es erfordert ein hohes Maß an Planung, Konzentration, Disziplin, Flexibilität und Selbstreflexion seitens der Trainer. Beide Zielgruppen bringen schließlich äußerst unterschiedliche Voraussetzungen mit und agieren vorerst unabhängig voneinander.
Die Lösungsansätze
Bewusstsein steigern: Man kann nicht davon ausgehen, dass allen Teilnehmern (TN) das Phänomen P. B. bewusst ist. Es ist jedoch essenziell, unbewusste Verhaltensweisen zu reflektieren, um sie damit bewusst und beeinflussbar zu machen. Ebenso muss das Ziel vereinbart werden, alle Beteiligten möglichst egalitär einzubeziehen – und zwar sowohl von Seiten der Moderation als auch der TN. Letztere können vorab nach Ideen gefragt werden, wie Brücken zwischen online und präsenter Welt gebaut werden können, um das gemeinsame Verantwortungsgefühl zu steigern. Es sollte auch allen vorab erklärt werden, dass es im hybriden Setting mehr Disziplin und »strengere« Moderation braucht als in Präsenz, um dem P. B. entgegenzusteuern.
Detaillierte Planung: Ähnlich wie in Online-Trainings müssen auch im hybriden Setting die Lerneinheiten besonders abwechslungsreich und kleinteilig geplant werden, um die Aufmerksamkeit der online Zugeschalteten zu halten. In der Praxis hat sich bewährt, alle 15 bis 30 Minuten die Methode zu wechseln (Gruppenübungen/Breakout-Sessions, Brainstorming, Diskussion, Kreatives etc.), wobei der Fokus abwechselnd online oder offline ist, um niemanden zu benachteiligen.
Technische Ausrüstung vorbereiten: Das Installieren (und Vorab-Testen!) der Technik ist die Grundvoraussetzung für den Erfolg jeder hybriden Veranstaltung. Nur so können auch Online-Teilnehmer ungehindert partizipieren und lernen. Im Seminarraum gilt: Decken- oder Richtmikrofone, gute Kamera(s), ein eigener großer Screen für die Darstellung der Online-Gruppe (mit Sprecheransicht und Chat!), keine Laptops für Anwesende aufgrund möglicher Tonstörungen. Im (Home-)Office: ruhige Umgebung, Kamera und Mikro, damit eine aktive Teilnahme möglich ist.
Gruppendynamik steuern: Um Emotionen in den (virtuellen) Raum zu holen und damit die Verbindung aller Beteiligten zu stärken, plane ich bewusst humorvolle und aktivierende Übungen ein. Ebenso reserviere ich mehr Zeit zum Kennenlernen und Ankommen. Gut angenommen werden visuelle Übungen, bei denen alle zu einem intuitiv gewählten (online) Bild eine Assoziation zum Thema ausdrücken oder sich anhand des Bildes vorstellen. Dabei kommen alle zu Wort und die Hemmung, sich als online teilnehmende Person zu melden, sinkt. Gemeinsames Brainstorming zu Fragen wie »Was hat mir bisher Spaß gemacht?«, »Was nehme ich aus der Übung mit?« oder »Wofür bin ich den anderen dankbar?« fördern Gemeinschaftsgefühle über den physischen Raum hinweg.
Verhaltensregeln vereinbaren: Im hybriden Setting müssen vor allem Regeln der Kommunikation noch detaillierter festgehalten und besprochen werden. Ein Beispiel: Wie können sich virtuelle TN zu Wort melden? Mit Handzeichen (nötig bei großen Gruppen) oder einfach lossprechen (natürlicher Gesprächsfluss) oder gar nur via Chat (davon würde ich dringend abraten). Wer wird wann drangenommen? Beispielsweise immer abwechselnd jemand, der physisch bzw. online anwesend ist. Virtuelle Teilnahme darf nur mit aktivierter Kamera stattfinden, weil sonst die Anonymität der online Zugeschalteten zu einer unüberwindbaren Mauer wird. Nur über die Videofunktion, welche die Mimik und Gestik der Online-User sichtbar macht, ist ein realitätsnaher, lebendiger Austausch möglich, der dem P. B. entgegenwirkt.
Solche Spielregeln können durchaus partizipativ festgelegt werden. Dazu eignet sich eine Online-Umfrage oder ein Jamboard, das am besten bereits vorab verschickt wird (s. u.).
eTools einsetzen, die von allen TN, egal wie sie teilnehmen, ident verwendet werden können. Idealerweise erhalten alle gleichzeitig einen QR-Code, der sie über die Smartphone-Kamera zu einem Quizz oder Video, einer Übung oder Umfrage weiterleitet.
Pre- und Post-Phase online gestalten: Damit werden eine Woche vor der hybriden Veranstaltung erstmals alle TN ins Online-Setting geholt und damit gleichbehandelt. Schön ist z. B. eine virtuelle Einladung mit Willkommens-Video. Auf diese Art können Seminarziele und der P. B. niederschwellig angesprochen werden.
Alle TN können anschließend über einen Online-Fragebogen weiter ins Thema geholt werden. Mittels Reflexionsfragen können auch die oben genannten Punkte »Bewusstsein« und »Spielregeln« gleich eingearbeitet werden.
Ebenso können Erwartungen bezüglich des hybriden Settings, der Moderation und Teilnahme erfragt werden. Das Bewusstsein für die geteilte Verantwortung über das Gelingen der hybriden Veranstaltung wird dadurch gestärkt.
Auch Transfer- und Selbstcoaching-Aufgaben werden nach dem Seminar via E-Mail oder LMS verbreitet. Lerntandems können bewusst so zusammengestellt werden, dass immer eine Person online, die andere präsent dabei war, um so den Austausch unterschiedlicher Erfahrungen zusammenzubringen.
Co-Moderation engagieren: Ein hybrides Seminar mit mehr als 15 TN lässt sich kaum alleine professionell meistern, ohne Online-TN zu benachteiligen. Man sollte sich durch eine Assistenz unterstützen lassen, die online zugeschaltet ist und sich u. a. explizit um den Chat und technische Probleme im virtuellen Raum kümmert. Bei Wortmeldungen nimmt man am besten immer abwechselnd eine physisch und virtuell anwesende Person dran. Zusätzlich können TN aktiv Rollen – wie Pausen- oder Spielregel-»Wauwau« – übernehmen, was die Trainierenden entlastet und die Gruppe stärkt.
Regelmäßig Feedback-Schleifen einbauen, um zu erheben, ob sich alle ausreichend angesprochen und einbezogen fühlen, oder vielleicht doch noch ein P. B. spürbar ist. Auf Wünsche muss dann natürlich auch weitest möglich eingegangen werden, was ein hohes Maß an Flexibilität verlangt.
Fazit
Der Proximity Bias und andere Herausforderungen hybrider Settings können neutralisiert werden, wenn man dazu bereit ist, sich bewusst auf diese vorzubereiten und in mehr Planungszeit und gruppenstärkende Übungen investiert. Technische Ausstattung und Know-how sowie eine Co-Moderation sind dabei weitere Erfolgskriterien. Ebenso wichtig ist, das Bewusstsein der TN darüber zu stärken, dass es besondere Spielregeln braucht, damit sich alle gleichermaßen einbezogen fühlen und motiviert sind, sich durch die Lernerfahrung weiterzuentwickeln.