Relevanz statt Rhetorik

Warum persönliche Geschichten nicht alles sind, darüber sinniert Jürgen Eisserer.

Die Welt der Redner und Speaker wird zu einem Schmelztiegel aus Tränen, Dramatik und angeblichen Phönix-Aufstiegen aus der Asche.
Man könnte meinen, die Speaker-Branche hat sich in ein riesiges Therapiezentrum für Selbstfindung und persönliches Leiden verwandelt. Überall hört man Geschichten von Menschen, die tief gefallen sind und dann, als ob durch ein Wunder, aus den Tiefen der persönlichen Gräben wieder aufgestanden. Ein bisschen wie eine kitschige Seifenoper, nur ohne die schlechte Schauspielerei, jedoch mit viel inszenierter Rhetorik. Doch was steckt hinter diesem Trend?

Es scheint, als ob die Rednerbranche eine regelrechte Obsession mit persönlichen Leidensgeschichten entwickelt hat. Man könnte meinen, sie hätten sich vorgenommen, eine ganze Generation von gutgläubigen Rednern auszubilden, die mit ihren persönlichen Tragödien auf die Geschäftswelt losgelassen werden. Aber warum? Warum müssen wir immer und immer wieder von den Tiefpunkten im Leben anderer Menschen hören? Klar, es gibt wirklich relevante Erfahrungen und Geschichten von Piloten, Bergsteigern, Tauchern und anderen Abenteurern oder Alltagshelden, die die Fähigkeit besitzen, ihre Erlebnisse ohne Kitsch und praxistauglich auf die Geschäftswelt übertragen zu können. Auch Kunden von mir bestätigen, dass das aus Unternehmenssicht ein immer wieder sehr bereichernder Perspektivenwechsel ist. Aber lassen wir uns nicht täuschen: Diese Geschichten sind eine Ausnahme. Die meisten von uns sind nicht dazu bestimmt, aus einem brennenden Flugzeug zu springen und dann ein Buch darüber zu schreiben. Inmitten dieser persönlichen Geschichten und Selbstverwirklichungserzählungen frage ich mich, ob der eigentliche Geschäftskontext nicht oft verloren geht. Nicht selten hört man von Unternehmen, dass Redner zwar unterhaltsam waren, aber niemand so recht verstanden hat, welche relevanten Einblicke sie für die Geschäftsziele brachten. Haben wir vergessen, warum Redner eigentlich eingeladen werden?

Der Sinn von Rednern

Sie werden in erster Linie eingeladen, um den Geschäftserfolg voranzutreiben, nicht um eine inspirierende Show zu bieten. Dafür gibt es Kabarettisten, Komiker und Clowns. Aber irgendwie haben wir das vergessen. Denn für Letzteres braucht es »nur« gute Rhetorik, auf die sich Ausbildungsplattformen besser verstehen. Eine Geschichte einmal einstudiert und hundertfach verkauft. So wird es sehr vereinfacht dargestellt.

Die Komplexität von Unternehmen, Wirtschaft und den Geschäftsleuten vor sich in die Rede einzubauen, ist vielen zu anstrengend. Da wird lieber die persönliche Geschichte vorangestellt. Hauptsache, sie ist inspirierend genug. Sich in die eigene Geschichte zu verlieben, ist nachvollziehbar. Denn es steckt ein langer Leidens- oder Erfolgsweg dahinter. Aber Relevanz ist wichtiger als Rhetorik. Für meinen Geschmack wird mittlerweile zu viel inszeniert. Auf allen öffentlichen Bühnen.

Doch als Redner tragen wir Verantwortung. Unsere Aufgabe ist es, den Geschäftszweck im Auge zu behalten. Persönliche Erfahrungen ja, aber sie müssen auch für Unternehmen und Mitarbeiter relevant sein. Nur so können wir sicherstellen, dass die Rhetorik ihren Platz als treibende Kraft in der Geschäftswelt behält. Wo Worte und Ideen so mächtig sind wie nie zuvor, sollten wir nicht nur Herzen berühren, sondern auch Geschäfte vorantreiben. Die richtige Balance zwischen persönlichen Geschichten und geschäftlicher Relevanz zu finden, ist entscheidend, um sicherzustellen, dass Redner auch ihren relevanten Zweck in der Geschäftswelt erfüllen.

Daher sollten wir uns bewusst sein, dass unsere Zuhörer keine Therapeuten sind, sondern Geschäftsleute, die nach relevanten Einsichten suchen. Wer wirklich inspirieren will, hat Ideen, die die Welt verändern, und nicht die nächste Drama-Story.

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Gastautor
Jürgen Eisserer
ist Keynote Speaker, Kommunikations­trainer und Autor.
www.eisserer.com