Sehen, was ist

Warum Beobachtungen von Mitarbeitern im Unternehmen häufig zu Fehlinterpretationen führen und wie man richtiges Beobachten trainieren kann, beschreibt Gregor Fauma.

Das Lernen richtigen Beobachtens ist für Verhaltensbiologen das Um und Auf. Man kann natürlich Menschen auch immer befragen, was sie in einer gewissen Situation tun würden, wie sie sich verhalten würden – doch meist haben die Antworten auf diese Fragen wenig mit dem dann tatsächlich gezeigten und auch beobachteten Verhalten zu tun. Deshalb ist das Sehen, was ist, so wichtig: Es liefert die besseren Informationen zu uns Menschen.

Beobachten nämlich Verhaltensforscher die Menschen bei ihrem täglichen Tun, so brauchen sie einerseits ein evolutionstheoretisches Wissen und andererseits eine möglichst große emotionale Distanz zum beobachteten Geschehen. Sie dürfen in das Geschehen nicht involviert sein, sie dürfen zum Geschehen aber auch keine Meinung haben, müssen frei sein von jeglicher Erwartungshaltung und müssen jegliches Denken in Rollen und Funktionen ablegen können. Alles andere wäre eine massive Beeinflussung der kognitiven Verarbeitung der beobachteten Vorgänge. Das Beobachten selbst wäre nicht mehr frei, sondern bereits gesteuert und selektiv. Man spricht von Bias – übrigens der heftigste Vorwurf, dem man einem Naturwissenschaftler machen kann. Deshalb werden auch möglichst oft Computer-basierte Systeme herangezogen, um menschliches Verhalten zu untersuchen.

Angehende Verhaltensforscher werden bei ihren ersten methodischen Übungen schnell an dieses Thema herangeführt. Es wird ihnen zum Beispiel ein Video vorgespielt, im Zuge dessen man Möwen und Sturmvögel in einer Brutkolonie auf einer vertikalen Klippe sich verhalten sieht. Die Professoren fragen »Was sehen Sie?« und die meisten Studierenden legen los: »Wir sehen aggressives Verhalten, wahrscheinlich ein Männchen, da verteidigt ein Weibchen ihr Nest, da kommt ihr ein anderes Weibchen zur Hilfe … wir sehen eine offensichtlich eifersüchtige Möwe einen Kontrahenten ausschalten … wir sehen zärtliche Zuneigung zwischen zwei Möwen …« Diese Aussagen sind womöglich nicht falsch, bloß sie können zu diesem Zeitpunkt nicht getätigt werden. Denn man weiß es einfach noch nicht. Stattdessen wird das Verhalten der Möwen mit menschlichen Emotionen und menschlichen Verhaltensmustern interpretiert – Fehler! Junge Verhaltensbiologen müssen erst lernen zu sehen, was ist.

Richtige Antworten würden folgendermaßen klingen: »Tier A nähert sich Tier B, weitet den Schnabel, schlägt mit beiden Flügeln gleichzeitig und gibt für uns Menschen hörbare Töne von sich.« Kein Wort von Aggression, Eifersucht oder Zärtlichkeit, kein Wort von Kontrahenten ausschalten oder zur Hilfe eilen. Als Wissenschaftler darf man erst einmal nur beschreiben, was man sieht!

Mitmenschen beobachten

Genauso verhält es sich, wenn wir, eingebettet in unser soziales Umfeld, unsere Mitmenschen beobachten und in Folge deren Verhalten bewerten, einschätzen und versuchen, daraus ableitbare Vorhersagen zur jeweiligen Person treffen zu können. Mitten drin im System, erliegen wir sämtlichen psychologischen Mechanismen, die ein sauberes Beobachten in Wahrheit verhindern. Und ist die Beobachtung selbst nicht mehr sauber, wie sollen dann Bewertungen und Vorhersagen zutreffend sein können? Das kann so nicht funktionieren. Wie geht es besser?

Sehen, was ist

Zuerst begibt man sich ins Feld, sprich zu den Menschen, und beobachtet, was es zu beobachten gibt. Bei diesen Ad-libitum-Beobachtungen entstehen Ideen und Theorien. Daraus wird in Folge bestimmt, was konkret beobachtet wird, an wem das beobachtet wird und wie es gemessen wird. Die Messbarkeit ist eines der wichtigsten Kriterien, um möglichst keinen Bias in das zu beobachtende Geschehen hineinzutragen. Und dann geht es schon los: Es wird gemessen, gemessen und gemessen. Je mehr Daten zu einer Fragestellung gesammelt werden, desto aussagekräftiger werden die statistischen Verfahren im Rahmen der Auswertung. So arbeiten Verhaltensbiologen.

Ein fiktives Beispiel

Beim Beobachten der Menschen im öffentlichen Raum ist aufgefallen, dass Fußgänger unterschiedlich lange bei roten Ampeln zu warten bereit sind. Erste Ad-lib-Beobachtungen führten zur Idee, dass die Risikowahrnehmung bei uns Menschen unterschiedlich verteilt sein könnte und dies durch Messen der Wartezeit an roten Ampeln überprüfbar sei. In Folge wird die Wartezeit für jeden Passanten aufgezeichnet, im Anschluss werden die Passanten nach einigen Parametern befragt, eventuell lässt man sie für eine Hormonanalyse auf Wattepads kauen – und kehrt mit den Daten zurück, um diese zu analysieren. Und womöglich kann man zeigen, dass Männer zwischen 20 und 45 Jahren, deren Einkommen im höchsten Perzentil liegt, unabhängig von Temperatur, Windgeschwindigkeit und sexuellem Status signifikant kürzer an roten Ampeln warten als alle anderen Passanten. Ob dies jetzt eine Aussage über deren Bereitschaft, ein Risiko einzugehen, zulässt, ist hinterfragenswert. Womöglich ist eine Aussage zur Bereitschaft zum Brechen gesellschaftlicher Normen zulässiger? Neue Frage, besseres Experiment … neue Ergebnisse. Wissenschaft ist langsam.

Hat man verhaltensbiologisch Zugänge und Methoden ein wenig verinnerlicht, wird man im unternehmerischen Umfeld seine Mitmenschen mit anderen Augen sehen. Man wird eher sehen, was ist, und nicht was man zu sehen wünscht oder glaubt. Man wird erkennen, was Mitarbeiter tatsächlich machen und nicht, was sie zu machen vorgeben. Man kann das, was man sieht, von dem, was man hört, viel besser trennen und daraus wertvolle Schlüsse ziehen. Man bezieht letztendlich eine liebevolle Meta-Position und bewundert das Theaterstück Mensch – und es wird einem sehr vertraut vorkommen.

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Fauma_Gregor_052017Gastautor Gregor Fauma

ist Verhaltensbiologe,
Autor und Keynote-Speaker.
www.gregorfauma.com

 

Workshop »Sehen, was ist«

Trainer: Gregor Fauma und Elisabeth Oberzaucher

Wann: 12.12.2017; Wo: Wien

Preis: 780,– Euro (exkl. USt.)

Weitere Infos: office@gregorfauma.com