In einer Welt, die sich schnell verändert, brauchen Führungskräfte neue Instrumente zur Bewältigung des Alltags. »Sei agil!«, so die Forderung seit Neuestem. Was genau bedeutet das? Wie funktioniert das? Welche Gefahren birgt das? Antworten darauf finden Sie in diesem Artikel.
Beginnen wir am Anfang mit dem Anfang von Agilität. Das ist zwar selbst nicht sehr agil, aber für einen Artikel zu diesem Thema sinnvoll. Agilität kommt ursprünglich aus dem Projektmanagement. 1943 wurde ein Kampfjet mittels agiler Vorgehensweise konstruiert. Im Vordergrund stand dabei vor allem die Selbstorganisation der Ingenieure. Sämtliche mühsame und bürokratische Hürden wurden bewusst vermieden. 1951 veröffentlichte Talcott Parsons das Buch »The Social System«, in dem wesentliche Themen einer agilen Organisation beschrieben werden. In den 90er-Jahren tauchte Agilität vor allem in der Produktion auf und schrie nach schneller, flexibler Produktentwicklung. Um die Jahrtausendwende hielt es Einzug in die Softwareentwicklung (agiles Manifest). Aktuell sind wir bei der agilen Organisation angelangt. Es werden also nicht nur einzelne Teilbereiche agil organisiert, sondern die gesamte Organisation. Das bringt besonders für Führungskräfte neue Herausforderungen. Die Antwort darauf lautet »agiles Führen«. Mit dem Begriff werden im Allgemeinen hohe Beweglichkeit, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit subsumiert. Und genau so ist agile Führung von der WPGS (Wirtschaftspsychologische Gesellschaft) definiert: »Agile Führung beinhaltet alle Maßnahmen, die Entscheidungen und Verhalten in einem Verantwortungsbereich schnell, flexibel und gut angepasst machen.«
Derzeit behaupten viele Unternehmen, »auf agil umzustellen«. Doch was bedeutet das in der Praxis? Wie wird Agilität im Unternehmen sichtbar? TRAiNiNG hat bei 4 Experten zu diesem Thema nachgefragt.
Veronika Aumaier (Geschäftsführerin Aumaier Consulting Training GmbH): »Agilität wird sichtbar in gegenseitiger Wertschätzung und Agieren auf selber Augenhöhe zwischen Führungskräften und Mitarbeitern. Proaktives Reagieren auf Kundenwünsche, kurzfristige Anpassungen und Weiterentwicklungen. Und natürlich durch eigenverantwortliches, selbstorganisiertes Handeln aller Menschen in der Organisation.«
Elisabeth Jelinek (Geschäftsführerin Jelinek Akademie): »Agilität als Begriff umfasst alle Methoden und Praktiken, die auf den 12 Prinzipien im ›Agilen Manifest für Software-Entwicklung‹ basieren, die 2001 von 17 erfahrenen Software-Entwicklern formuliert wurden. Die vier Leitsätze aus dem Agilen Manifest sind:
- Menschen und Interaktionen stehen über Prozessen und Werkzeugen.
- Funktionierende Software steht über einer umfassenden Dokumentation.
- Zusammenarbeit mit dem Kunden steht über der Vertragsverhandlung.
- Reagieren auf Veränderung steht über dem Befolgen eines Plans.
Agilität erfordert nicht nur ein Umdenken und eine Veränderung in der Zusammenarbeit, den Hierarchien und den Prozessen, sondern verlangt auch ein neues Mindset, eine neue Art zu denken, und das von allen Rollen. Dass solch eine Veränderung nicht von heute auf morgen geht, sagt uns schon der Hausverstand. Wie bei allen größeren Veränderungsvorhaben ist eine professionelle Begleitung durch interne und externe ›Change Agents‹ oft erfolgsentscheidend.«
Wie das in der Praxis aussehen kann, beschreibt Richard Melbinger (Geschäftsführer ARS Akademie): »Vor rund 10 Jahren gab es viele Instant-Messaging-Dienste (ICQ, MSN Messenger …), die Statusnachrichten einsetzten, um dem Empfänger zu signalisieren, ob man für einen Chat bereit sei. WhatsApp verband diese Funktion mit dem Telefon. Der einzige Nutzen in dieser Erstversion war, zu erkennen, ob jemand bereit war, einen Anruf zu empfangen und vielleicht, wo er sich befindet – der Erfolg war mäßig. Ein Jahr später, nach der Einführung der Push-Notifications, kam Bewegung in die Sache. Jan Koum und Brian Acton entdeckten, dass die Nutzer die App als Messenger verwendeten und aktiv kommunizierten. Die beiden haben innerhalb kürzester Zeit eine Chat-Funktion entwickelt, die Schwächen ihrer Mitbewerber analysiert und den Usern ein einfaches Produkt, das ihre wichtigsten Wünsche erfüllt, angeboten: einfache Kommunikation mit ihrem Mobiltelefon, unkomplizierte Registrierung und vor allem geringe Kosten im Gegensatz zu SMS/MMS. Die beiden Entwickler hatten zu der Zeit noch keine genauen Pläne für ihr Produkt, aber sie waren offen und wendig genug, um sich ihrer Umgebung und ihren Usern anzupassen sowie ihren Kunden einen Mehrwert zu liefern. Genau das versteckt sich hinter Agilität: Eine Organisation, die nach den Kundenbedürfnissen ausgerichtet ist und sich wie auch ihr Produkt schrittweise, also iterativ weiterentwickelt.«
Agilität als Trendthema?
Schon immer gab es in der Wirtschaft verschiedene Trends, wie Organisationen »funktionieren«. Der Taylorismus mit seinen starken Hierarchien war in den Anfängen des 20. Jahrhunderts die führende Organisationsform. Wohl das pure Gegenteil von Agilität. Über hybride Organisationsformen hat man sich im Laufe der Zeit immer weiter von der klassischen Aufbauorganisation entfernt. Weitere Schlagworte der letzten Jahre sind: TQM, KAIZEN, Lean Management, Balanced Scorecard … Ist Agilität nur ein weiteres Wort in der Liste der Organisationsmodelle, mit denen Berater gutes Geld verdienen?
Monika Herbstrith-Lappe (Geschäftsführerin Impuls & Wirkung): »Schon jetzt ist Agilität kein Allheilmittel. Vielmehr braucht es eine gesunde Balance zwischen Agilität und Stabilität. Auf einem stabilen Fundament kann man agiler Weise aufbauen. In englischer Sprache ist eine japanische Volksweisheit besonders pointiert: ›Vision without action is a daydream. Action without vision is a nightmare.‹ Die Wendigkeit im Manöver setzt die Klarheit im Ziel und der Strategie voraus. Sonst verkommt es leicht zu Aktionismus. Das WOFÜR, der Purpose, muss klar sein und auch tatsächlich beim Setzen der Prioritäten genutzt werden.«
Veronika Aumaier: »In den letzten 40 Jahren entwickelten wir uns und unsere Kinder verstärkt in Richtung Individualität. Wir betonen in der Berufswelt und im privaten Lebensumfeld persönliche Freiheitsgrade, Eigenverantwortung und Selbstorganisation und bewegen uns ständig in einem sich rasch verändernden, dynamischen Umfeld. Agilität ist daher kein Trend, sondern ein ›must have‹, um in diesen Rahmenbedingungen erfolgreich mithalten zu können. Auch wenn wir nicht alle technologischen Entwicklungen mitgehen möchten, oder selbst wenn wir uns als Schlusslichter oder ›Aussteiger‹ im technologischen Fortschritt sehen – wir brauchen Agilität, um uns rasch auf neue, sich ändernde Rahmenbedingungen einstellen zu können. ›Border Crossing‹ ist vielleicht etwas, das im Anschluss als Steigerung zur Agilität kommen wird: Die Fähigkeit, bis zu mehrmals täglich zwischen extrem unterschiedlichen Welten mit verschiedenen Kulturen, Ansprüchen, Erwartungen, Beschaffenheiten surfen zu können, die sich grundlegend unterscheiden.«
Richard Melbinger: »Agilität ist weniger ein Trend als eine Notwendigkeit der Zeit, in der wir leben. Aufgrund der gegenwärtigen Schnelllebigkeit der Produkte und Dienste, sind Unternehmen zunehmend gefordert, kundenorientiert, wendig und flexibel zu agieren – mit einem Wort: agil! Das agile Mind- und Toolset wird bestehen bleiben, ebenso wie Wissensmanagement, Nachhaltigkeit und viele weitere Trends der letzten Jahre und Jahrzehnte. Diese Entwicklung wird sich in vielen Bereichen unserer Unternehmen festsetzen und zum Standard werden. Damit öffnet sich das Feld für den nächsten Trend, und der wird meiner Meinung nach wieder mehr nach innen gerichtet sein, in Richtung der Mitarbeiter. Agile Organisationen starten bereits den Prozess zu mehr Mitbestimmung durch die Mitarbeiter, das wird definitiv ein Zukunftsthema.«
Agilität ins Unternehmen bringen
Nun, jetzt wissen wir, was darunter verstanden wird und was es bedarf. Doch was bedeutet das konkret? Was sind die ersten Schritte, die Organisationen unternehmen müssen, um in das Mysterium der Agilität einzutauchen?
Richard Melbinger: »Der wichtigste Punkt, um Unternehmen agil zu machen, ist die Organisationsstruktur. Die meisten Unternehmen stellen noch immer sich selbst in den Mittelpunkt, anstatt den Kunden. Größtes Ziel ist es, effizient zu sein, aber leider meist auf Kosten der Effektivität.«
Start-ups arbeiten meistens agil, ohne große formelle Strukturen. Auch Unternehmen, die schon länger am Markt agieren, bzw. gewachsen sind, können so werden. Häufig jedoch hält sie die Angst vor dem Change-Prozess davor ab, die bestehenden (und bewährten) Strukturen zu verändern. Daher ist es sinnvoll, bei den Menschen im System zu beginnen und hier eben bei den Führungskräften. Diese für dieses Thema Agilität zu begeistern, zu schulen und ihnen vor allem die Angst vor dem angeblichen Machtverlust zu nehmen, ist ein erster Schritt in eine agile Unternehmenskultur.
Elisabeth Jelinek: »Wenn das gesamte Unternehmen agil agieren soll, erfordert das den vollen Einsatz und Bekenntnis des gesamten Managements. Die Vision und Ziele einer Veränderung hin zu Agilität müssen klar formuliert und kommuniziert werden. Wenn nur ›die da unten agil arbeiten sollen, damit endlich was weitergeht‹, wird Agilität auf Unternehmensebene scheitern. Führungskräfte können es schaffen, agil zu agieren, wenn sie sich der agilen Werte bewusst sind und diese auch leben (wollen). Damit Agilität funktioniert, sind Führungskräfte gefordert, aufeinander abgestimmte Prozesse, Methoden und Rollen zu definieren. Eine Führungskraft, die nur den Machtverlust – durch Übertragung von Verantwortung und mehr Spielräume für die Mitarbeiter – sieht, wird eine agile Veränderung möglicherweise bekämpfen. Alles, was die Selbstwirksamkeitsüberzeugung stärkt, wird der Führungskraft helfen, agil zu agieren.«
Veronika Aumaier: »Führungskräfte sind für Unternehmen diejenigen, die die Rahmenbedingungen definieren, um die Agilität zielorientiert zu unterstützen und die Mitarbeiter zur Mitgestaltung zu ermutigen. Sie haben durch ihr Führungshandeln die Schlüsselrolle für den Agilitätsgrad des Unternehmens. Sie brauchen dafür das Wissen und die Fähigkeit zum systemischen Handeln, Lösungsorientierung und ein offenes, tolerantes und optimistisches Mindset. Die Rolle des Business Coaches avanciert intern und extern zur Starrolle, da sie all diese Fähigkeiten erfordert.«
Agile Führung hat viel mit Kommunikation zu tun. Zum richtigen Zeitpunkt, zu den richtigen Personen das Richtige sagen. Das ist die Hauptaufgabe von agilen Führungskräften. Befehle auszuteilen ohne Rücksicht auf Situation und Menschen zu nehmen, ist Vergangenheit.
Monika Herbstrith-Lappe: »Führen mit Druck und Macht der Hierarchie killt Eigenverantwortung und Kreativität. Heute funktioniert nur Führen mit Vertrauen. Die große Herausforderung besteht in der Kunst des Loslassens und Anvertrauens. Reinhard Sprenger formuliert pointiert: ›Vertrauen schenken erzeugt einen Verpflichtungssog.‹ Menschen wollen schließlich das geschenkte Vertrauen nicht enttäuschen und wieder verlieren. In vielen Organisationen gilt nach wie vor mehr oder weniger ausgeprägt das Prinzip: Der beste Experte wird Führungskraft. Jetzt braucht es den Mut zur Demut: Das Team ist der Star und die ermöglichende Führungskraft steht im Hintergrund. So wie auch im Theater das Ensemble den Hauptapplaus bekommt und dem Regisseur nur zu den Premieren ein relativ kleiner Anteil des Beifalls geschenkt wird.«
Gefahren der Agilität
Das definierte Ziel »agil zu werden« kann auch zu einem Problem werden, z .B. wenn es zum Selbstzweck wird. Im Artikel ab Seite 50 können Sie in einem Gastbeitrag lesen, was schief gehen kann und was daraus gelernt werden konnte. Mitarbeiter können überfordert werden durch die Übernahme größerer Verantwortung – damit kann auch nicht jeder umgehen. Auch kommt es selbstverständlich zu Widerspruch, wenn Führungskräfte Wasser predigen und Wein trinken. Weiter oben haben wir gelesen, dass es einer Mindset-Änderung bedarf; das geht natürlich nicht von heute auf morgen.
Elisabeth Jelinek: »Agilität als Konzept wird in Unternehmen scheitern,
- wenn Agilität als trendige Wunderwaffe gegen alle Probleme im Unternehmen eingesetzt werden soll,
- wenn das ›Menschliche‹ zu wenig berücksichtigt wird, der Umgang mit den Menschen nicht kompetent ist,
- wenn Agilität eingeführt wird, ohne sich über Konsequenzen auf die Mitarbeiter, Strukturen, Prozesse und das gesamte Unternehmen Gedanken zu machen, sprich das System als Ganzes nicht betrachtet wird,
- wenn der Veränderungsprozess nicht professionell begleitet wird und das Unternehmen durch Unsicherheit und Überforderung gelähmt wird,
- wenn das Konzept der Agilität für das Unternehmen nicht kontinuierlich weiterentwickelt wird, das betrifft Onboarding neuer Mitarbeiter, Weiterbildung, Organisationsentwicklung etc.«
Veronika Aumaier: »Die Grenzen der Agilität liegen im Mindset der Führungskräfte und Mitarbeiter und in bürokratischen Strukturen von Organisationen. Agilität setzt beim Mitarbeiter Reife und Engagement voraus. Wenn Mitarbeiter zu lange zu sehr daran gewöhnt sind, dass Führungskräfte antreiben, kontrollieren, korrigieren und notfalls selbst eingreifen, dann können die Freiräume agiler Organisationsformen nicht genutzt werden. Im Gegenteil, sie überfordern und machen Angst. Und Agilität setzt auch bei der Organisation einen entsprechenden Reifegrad voraus. Wenn Prozesse und Projekte detailliert top down geplant, definiert und vorgedacht und angeordnet sind, dann herrschen bürokratische Strukturen vor, die Eigenverantwortung ersticken und Selbstorganisation nicht vorsehen.«
Richard Melbinger: »Die größte Gefahr sehe ich in falsch verstandener Verantwortung. Die agile Organisation will unternehmerisch agierende Mitarbeiter, die selbstständig Entscheidungen treffen und durch ihre Vorgesetzten lediglich unterstützt werden. Die Verantwortung und Entscheidungskompetenz wird damit so weit wie möglich an die Mitarbeiter delegiert. Diese Verantwortung kann der Mitarbeiter jedoch nur wahrnehmen, wenn ihm die Ziele bewusst sind und er über die entsprechenden Entscheidungsgrundlagen Bescheid weiß. Größtmögliche Transparenz ist notwendig. Enthalte ich dem Mitarbeiter Informationen vor – frei nach dem Motto: ›Jeder soll nur wissen, was er wissen muss‹ – wird die agile Organisation scheitern.«
Monika Herbstrith-Lappe: »Es geht darum, Methoden zu kapieren und nicht bloß zu kopieren. Agilität wird häufig als Ausdruck gesteigerter Flexibilität verwendet. Sehr leicht verkommt es dann zum ausweichenden Schlagwort, wenn man sich nicht festlegen will. Agiles Führen verdeutlicht jedoch den Grundsatz: Führen mit Vertrauen braucht Kontrolle: Selbst- und Fremd-Kontrolle als wesentliches Element von Controlling, d. h. (Selbst-)Steuerung. Mich hat zunächst überrascht, dass agiles Vorgehen wesentlich restriktiveres und engmaschigeres Reviewen des Fortschritts bedeutet. Das heißt, die Verbindlichkeit ist deutlich gesteigert.«
Fazit: Agilität scheint mehr als nur ein kurzfristiger Trend zu sein. Durch die neuen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bedarf es eines neuen Mindset, neuer Führung und neuer Organisationsmodelle. Diese dürfen dabei aber niemals zum Selbstzweck werden. Sowohl die Organisation, als auch die agierenden Personen benötigen eine gewisse Reife und regelmäßige Reflexion, um mit den neuen Rahmenbedingungen klar zu kommen.