Dieser Artikel beleuchtet neue Perspektiven auf Lern- und Entwicklungspotenziale in Organisationen.
Worin besteht die Tätigkeit des Führens in Organisationen? In den wenigsten Fällen darin, dass eine Person (oder eine Gruppe) weiß, wo es langgeht und den anderen mehr oder weniger deutlich anzeigt, wie sie dorthin gelangen können. Führen verstehen wir vielmehr als Lernen von und mit anderen. Dabei geht es vor allem darum, herauszufinden, wo und wie die Entwicklung von Erwachsenen sich vollzieht, denn nur so können Aufgabenbereich, Rollenverständnis, Qualifikation und Persönlichkeit von Menschen in Organisationen bestmöglich integriert werden.
Selbstverständlich ist Handeln und Entscheiden in Organisationen durch Ziele definiert. Deren Erreichung bzw. Umsetzung baut auf der Kompetenz und der Erfahrung von Mitarbeitern und Abteilungen auf. Ein wesentlicher Punkt, der in diesem Zusammenhang immer wieder unterschätzt oder auch gar nicht gesehen wird, ist die Tatsache, dass das »Wie« unserer Sicht auf die Welt nicht neutral ist. Im Zeitalter der Wissensarbeit ist es für den Erfolg und ein nachhaltiges Wachstum einer Organisation essenziell, sich mit dem Thema der Erwachsenenentwicklung intensiv zu beschäftigen.
In modernen, rational geführten Organisationen hat es sich als sinnvoll erwiesen, die Zielerreichung und die Umsetzung der Strategie durch Strukturen und mehr oder weniger klar definierte Prozesse zu unterstützen, die nicht jedes Mal neu erfunden werden müssen. Jedoch wissen alle, die Organisationen von innen kennen, dass selbst die genaueste Vorgabe von Zielen, die eindeutige Zuordnung von Aufgaben und die Ausstattung von Führungskräften auf verschiedenen Ebenen mit Entscheidungsbefugnissen nicht garantieren, dass Leistungen erfolgreich erbracht werden. Führen ist daher als ständiger Prozess zu verstehen, der sich in einem Zwischenraum abspielt: zwischen der Aufgabenzuteilung, der Ressourcenplanung und Projektsteuerung, der Auswahl von Mitarbeitern, der Bewertung von Ergebnissen und der beständigen Reflexion über die Art und Weise, wie die jeweils Befugten Entscheidungen treffen und wie gut oder schlecht deren Umsetzung erfolgt. Führen spielt sich überall und nirgends ab: Auf der Kommandobrücke genauso wie im Maschinenraum kann Führen erfolgreich sein oder scheitern.
Ein wesentlicher Aspekt für das Gelingen oder Scheitern von Führung liegt in der Fähigkeit, sich im wechselseitigen Umgang aufeinander einzustellen. Dies fällt uns wesentlich leichter, wenn wir uns vor allem über uns selbst und im nächsten Schritt auch über andere klarer sind. Wenn wir im Kontext der Organisation von Erwachsenenentwicklung sprechen, dann handelt es sich dabei um 4 Entwicklungsstufen und 3 Übergangsphasen, die wir in unserem Leben durchlaufen. Diese Stufen bilden unter anderem folgende Aspekte ab: meine ganz persönliche Perspektive auf die Dinge, das der Stufe zu Grunde liegende Menschenbild, meine Werthaltung und Grundmotivation, mein Bedürfnis nach Kontrolle, Handlungsmuster, innere Dimensionen des Handelns und Entscheidens, Sinnkonstruktionen, Kommunikationsverhalten, welche Strategie wir im Umgang mit Konflikten haben, die Grundmotivation, den Grad der Selbsterkenntnis, den Umgang mit Regeln, Zeit, Emotionen und Feedback. All dies hat eine zentrale Auswirkung darauf, wie wir Entscheidungen treffen und welche Handlungen wir setzen.
Je weiter wir uns entwickeln, desto breiter wird automatisch das Spektrum unserer Handlungen und unserer Wahrnehmung. Es ist nicht so, dass wir auf dem Weg von einer Stufe in die nächste unsere bisherigen Verhaltensmuster ablegen wie einen alten Mantel, um in einen neuen zu schlüpfen. Wir erweitern vielmehr unsere Möglichkeiten. Das Potenzial zur Entwicklung ist in jedem von uns angelegt. Ob wir uns entwickeln, hängt davon ab, ob wir einen Kontext vorfinden, in dem es auch die Möglichkeit zur Entwicklung gibt. Ob Entwicklung etwas ist, das gefordert und gefördert wird, oder ob das Bewusstsein dafür in der Organisation, in der bestehenden Kultur, wenn man Kultur als Kontext versteht, nicht gewünscht und damit verhindert wird.
Das Nichtvorhandensein von Entwicklungsmöglichkeiten wird als andauernde Spannung erlebt, die häufig zu Überforderung führt. Man kann überall Widerstände erleben, die der sorgfältig ausgearbeiteten Strategie und der Umsetzung der Ziele entgegenstehen. Oder aber man lässt sich auf eine Perspektive ein, die hinter den Spannungen und Widerständen Potenziale für Entwicklung entdeckt. Dass Organisationen sich entwickeln und lernen, ist keine Neuigkeit, sondern wurde vor Jahrzehnten von Autoren wie Agyris und Schön bzw. Senge detailliert untersucht. Seither sind viele theoretische und praktische Studien zur »lernenden« oder »kompetenten« Organisation gemacht worden. Allerdings kann man unter dem Lernen und der Entwicklung von Organisationen vieles verstehen: die Weiterentwicklung von Prozessen und Strukturen genauso wie die individuelle fachliche Weiterbildung des Personals oder die Auswahl neuer Kräfte aufgrund geänderter Qualifikationsprofile.
Es kann jedoch auch den Umgang miteinander betreffen, die Organisationskultur, die zwar ein wichtiges stabilisierendes Element darstellt, aber nicht unveränderlich ist. Darin liegt eine Gratwanderung, die unserer Erfahrung nach nur durch Lern- und Entwicklungsprozesse zu meistern ist, und zwar auf individueller wie auf kollektiver Ebene. Sie müssen, wie man heute sagt, »agil« werden. Sie sind immer mehr darauf angewiesen, dass Ihr Personal nicht einfach die Arbeit erledigt, sondern Verantwortung übernimmt und die eigenen Arbeitsbedingungen und -prozesse mitgestaltet. Andererseits können die erweiterten Möglichkeiten, sich einzubringen, zu großen Verwerfungen führen, wenn letztlich allzu unterschiedliche Geschwindigkeiten, Interessen und Zugänge nicht mehr in eine von allen geteilte Kultur integriert werden können.
Führungskräfte erleben oft hautnah die Diskrepanz zwischen drei Faktoren, die die Zusammenarbeit in vielen Organisationen bestimmen. Einem (1) Mehr an Freiheit bei der Aufgabenerledigung und Rollengestaltung stehen (2) Kontrollbedürfnisse und das Bestehen auf ineffizienten Hierarchien gegenüber. Oder aber es kommt zu einem wenig zielführenden Aktivismus mit von oben verordneten, stark wechselnden Strukturen und Organisationsformen, die wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter nehmen. Darüber hinaus sind (3) Mitarbeiter zwar oft fachlich und damit kognitiv gut ausgebildet, aber sozial-emotional nicht so entwickelt, dass sie mit der Gestaltungsfreiheit und der Notwendigkeit einer Zusammenarbeit im Zeichen größerer Offenheit und Kooperation sowie dem beständigen organisationalen Wandel gut umgehen könnten.
In unserer Arbeit versuchen wir die Entwicklungs- und Lernpotenziale vor allem in dem bereits angesprochenen Zwischenraum zu fördern. Dafür haben wir Analysemodelle und Methoden entwickelt, die auf sozialwissenschaftlichen und organisationspsychologischen Konzepten beruhen und vor allem die Führung in ihrem täglichen Tun unterstützen. Wir setzen dabei zunächst das individuelle Leistungspotenzial mit den Dynamiken der täglichen Interaktion in den Teams und Abteilungen in Beziehung. Nur wenn diese sozialen Prozesse sich positiv entwickeln, kann ein Team oder eine Abteilung produktiv sein. Dabei unterscheiden wir 4 Dimensionen der »sozialen Produktivität« und 4 Stufen der Erwachsenenentwicklung, die wir gemeinsam mit den Beteiligten analysieren und reflektieren. Es geht um die Art der Verantwortungsübernahme und Einbindung, um Regeln fürs tägliche Miteinander, um die Übereinstimmung der individuellen Motivation mit den übergeordneten Projekt- und Unternehmenszielen sowie um die Frage, ob die Einzelnen sich gemäß ihren Bedürfnissen und ihrer Kompetenz in die Gestaltung von Prozessen und Strukturen einbringen können.